31.12.1996 PDF

Was soll die Europäische Union?

Früher war das Kapital in größerem Umfang national zugeordnet; es tätigte Investitionen hauptsächlich im Rahmen "seines" bürgerlichen Staates und konnte in allen Bereichen auf dessen Funktionen als Garant möglichst unbehinderter Verwertung zurückgreifen.
Durch den Prozeß der Globalisierung, also des Vorstoßes der Konzerne auf den entstehenden Weltmarkt, was nicht nur Absatzmärkte, sondern auch Anlagemöglichkeiten fürs produktive Kapital und Zugriff auf Arbeitskräfte betrifft, kam es zu einem Bedeutungsverlust national eingegrenzter Geschäftsräume.
Handel über Staatsgrenzen hinweg gab es schon immer - geht es also tatsächlich um eine neue Entwicklung? Wie ist sie zu erklären? Und warum wird sie von den Nationalstaaten vorangetrieben?


Kapitalbewegungen und die gegenseitige Abhängigkeit von bürgerlichem Staat und kapitalistischer Wirtschaft
Unter den Bedingungen der Konkurrenz sucht das einzelne Kapital stets nach den profitträchtigsten Anlagemöglichkeiten. Dieser prinzipiellen Bewegung stehen Staatsgrenzen als Hindernis entgegen, weil sie nur einen beschränkten Teil der Welt dem Zugriff zur Verfügung stellen. Es existierte daher schon immer der Drang, diese Grenzen zu überwinden. Jedes Geschäft über den nationalen Rahmen hinaus bedeutete schon den Anfang dessen, was heute unter dem Begriff Globalisierung verstanden wird.
Die stetig wachsende Größe eines Kapitals, die sowohl notwendige Grundlage als auch Resultat des Erfolgs in der Konkurrenz ist, läßt eine weitere, von den Auswirkungen her vergleichbare Bewegung zu: Die Expansion, d.h. das Tätigwerden in anderen Produktionsbereichen oder die geographische Ausdehnung. Diese macht an Grenzen nicht halt. Nur durch staatliche Maßnahmen, die dem Agieren der Unternehmen in fremden Hoheitsgebieten den Weg bahnen, kann sie als Möglichkeit der Wertschöpfung umfassend genutzt werden.
Der Staat ist dabei allerdings nicht Anhängsel der Wirtschaft und hat ohnmächtig ihren Bewegungsgesetzen zu folgen, sondern er schafft erst die Bedingungen, unter denen kapitalistische Produktion und Handel stattfinden. Das gilt zunächst einmal im eigenen Land, wo die Grundlagen für diese Wirtschaftsweise staatlich gesetzt und garantiert werden, aber auch international, wo durch die gegenseitige Anerkennung der Staaten und das Schließen von Verträgen den Kapitalen die Möglichkeit zur Grenzüberschreitung geschaffen wird. Das erfordert einen nach Außen starken, d.h. zur Gewalt fähigen und bereiten Staat, da sonst für den jeweils anderen Staat keine sachliche Notwendigkeit zur Anerkennung bestünde.
Also ist der Erfolg (und sogar die Möglichkeit) kapitalistischen Wirtschaftens abhängig von staatlichem Handeln, und andersherum ist eine florierende Wirtschaft Bedingung der Souveränität bürgerlicher Staaten. Nur auf ihrer Grundlage können nationale Notwendigkeiten, insbesondere ein durchsetzungsfähiger Gewaltapparat nach Innen und Außen und die nötige Infrastruktur, bereitgestellt werden. Es ist daher von entscheidender Wichtigkeit, möglichst großes Kapital im eigenen Herrschaftsgebiet zu versammeln, um durch Besteuerung und andere Maßnahmen über die für diese Zwecke erforderlichen Mittel verfügen zu können.

Die Globalisierung des Kapitals: Historische Entwicklung
Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die USA unangefochten die stärkste Macht im kapitalistischen Lager. Wesentlich für ihre Außenpolitik war die Konfrontation mit dem "Ostblock", die eine militärische Zusammenarbeit der kapitalistischen Staaten notwendig machte. Um die "befreundeten Länder" dafür tauglich zu machen, war der Marshallplan nicht nur für die BRD, sondern auch für Italien, Griechenland und andere Staaten entwickelt worden. Eine protektionistische Politik, wie von den USA nach dem Ersten Weltkrieg betrieben (Sicherung der nationalen Produktion und Märkte durch ökonomische Abschottung wie Schutzzölle etc.), hätte eine wirtschaftliche Erholung der europäischen und asiatischen Verbündeten und damit die Übernahme der zugeteilten Rolle verunmöglicht. Außerdem wünschte man sich europäische Handelspartner, die die erhaltenen Gelder möglichst für den Erwerb amerikanischer Produkte verwenden sollten (eine Bedingung des Marshallplans). Deshalb machten sich die USA daran, Investitions- und Handelshemmnisse abzubauen. Der so entstehende Weltmarkt, der die gesamte "westliche Welt" umfaßte, war erst die Grundlage für die Globalisierung und das gewaltige Wachstum des Kapitals seitdem.
Die USA garantierten dabei diese Weltordnung auch militärisch weit-gehend, besonders nach Auflösung des britischen und des französischen Kolonialreiches. Dabei wurde offenbar nicht ernsthaft die Möglichkeit in Betracht gezogen, die Stellung der Vereinigten Staaten könne wirtschaftlich oder militärisch von den "Partnern" angekratzt werden. Daß dies eine Fehleinschätzung war, hat sich vor allem im europäischen Gegenprojekt zur amerikanischen Weltmarktbeherrschung, der EG/EU, gezeigt.
Mit dem Abdanken des "Ostblocks" als Hauptfeind kommt die imperialistische Konkurrenz, die vorher durch den erzwungenen Zusammenhalt abgeschwächt gewesen ist, wieder in Reinform zum Tragen. Die Haltung der erfolgreichen Staaten ist dabei zwiespältig: Einerseits hält sie das gemeinsame Interesse an der kapitalistischen Zurichtung der ganzen Welt zusammen (und damit auch in Bündnissen und überstaatlichen Organisationen), andererseits will jeder Staat den größtmöglichen Vorteil daraus ziehen. (Weshalb um die Rollenverteilung in diesen Organisationen ausgiebig gestritten wird.)
Im Zuge der genannten Entwicklung sind neue große Wirtschaftsräume entstanden, die die Aufteilung des Kalten Krieges in zwei weitgehend voneinander abgeschottete Blöcke abgelöst haben. Hier hatten die USA die besten Startbedingungen, da sie schon bei der Staatengründung die wesentlichen Voraussetzungen für einen einheitlichen Wirtschaftsraum und Binnenmarkt schufen.
Um der Gefahr entgegenzutreten, im internationalen Wettbewerb der Märkte zu unterliegen, entwickelten die mächtigsten europäischen Staaten (inzwischen unter deutscher Führung) die Initiative zur Gründung eines vergleichbaren Blocks, dessen erster Zweck die Bildung eines den Bedingungen in den USA vergleichbaren Binnenmarktes fürs expandierende Kapital war.
In Südostasien entstand durch die hohe Produktivität der hochtechnisierten Wirtschaft eine rasant akkumulierende Zone, die ihre Werte vor allem durch den Export realisiert.
Neben diesen gab und gibt es weitere Kooperationsansätze, wie z.B. die NAFTA (USA-Kanada-Mexiko), USA-Asien, Europa-AKP-Staaten (das ist der Bereich Afrika/ Karibik/Pazifik) oder von südamerikanischen Staaten.

Einfluß der Globalisierung auf die internationalen Wirtschaftsbeziehungen
Mit dem allmählichen Abbau der Handelsgrenzen innerhalb der neu entstandenen Blöcke einher geht eine tendenzielle Verringerung der Protektionsmechanismen, die sich Unternehmen vorher über ihren jeweiligen Standort zunutze machen konnten (je nach staatlicher Ausgestaltung und Zweckmäßigkeit z.B. Schutzzölle gegen ausländische Konkurrenten, Einfuhrkontingente). Dies führt zum stärkeren Durchschlagen der Produktivitätsunterschiede zwischen den globalisierten Kapitalen. Für den auf dem vergrößerten Markt operierenden Konzern ist nun eine erhöhte Produktivität nötig, da er sonst niederkonkurriert wird - mit der Folge des wirtschaftlichen Ruins. So bedeutet der Beschluß zur Verbesserung der Bedingungen für das Kapital insgesamt die sichere Pleite für in der Konkurrenz unterlegene Einzelkapitale.
Die hoheitlichen Setzungen der Rahmenbedingungen fürs Wirtschaften fallen jedoch keineswegs einfach weg - innerhalb der Binnenmärkte werden sie zwar nach und nach vereinheitlicht, im Verkehr zwischen den Wirtschaftsgroßräumen sind sie dagegen oft wichtiger und umfassender als zuvor: Zentrale Punkte in Handelsverträgen sind nach wie vor die Normierungen für die Zulassung ausländischer Güter im jeweiligen Markt. Durch das Ausspielen einer "Vorreiterrolle bei den Umweltschutzbestimmungen" beispielsweise kann der Markterfolg ausländischer Billigproduzenten verhindert werden, wenn deren Produkte den Anforderungen im Gegensatz zu denen der einheimischen Anbieter nicht genügen. Ein weiterer Schritt ist dann im Idealfall die weltweite Durchsetzung solcher Bestimmungen, um auch in diesem Rahmen die günstigere Herstellung zu unterbinden und den eigenen Knowhow-Vorsprung zu nutzen. "Menschenrechte" eignen sich vorzüglich, um sie von anderen Staaten einzufordern - das Verbot von Kinderarbeit, die Zulassung von Gewerkschaften usw. schaffen die Vorteile ab, die durch die in dieser Hinsicht vormals günstigeren Produktionsbedingungen in diesen Staaten bestanden.
Auf dem Gebiet der internationalen Handelsbeziehungen ist die Konkurrenzfähigkeit der Ware und Währung der bestimmende Faktor der nationalen Souveränität. Auch das weltweite Kapital agiert von staatlichen Stützpunkten aus, weil diese als zentrale Instanzen die Rechtmäßigkeit des Äquivalententausches garantieren. Die wirtschaftliche Durchsetzungskraft der Waren ist wichtigste Bedingung für die politische Durchsetzungskraft des Staates, der die Möglichkeit ihrer Bewegungen sicherstellt.
Die Stabilität der Währung ist wichtig, indem sie die Verschuldungsfähigkeit durch staatliche Anleihen auf dem Weltkreditmarkt darüber bestimmt, daß sie das notwendige Vertrauen der Geldgeber in die Schuldnernation herstellt. Weiterhin tätigen viele Konzerne Investitionen in mehreren unterschiedlichen Währungen, um durch diese Diversifizierung Abwertungen einzelner Zahlungsmittel abfedern zu können. Die Attraktivität einer Kapitalanlage ist in nicht geringem Maße durch die Stärke des Geldes bestimmt, das dafür verwendet wird. Die Staaten müssen also einen Wettbewerb um die "Gunst" der Anleger führen, um möglichst viele solcher Aktivitäten auf sich zu ziehen. Auch beim grenzüberschreitenden Handel bedeutet eine "weiche" Währung einen grundsätzlichen Nachteil: Niemand will sie haben, weil ihre Entwertung zum ständigen Absinken der Kaufkraft auf dem Weltmarkt führt. Nicht zufällig bemühen sich Staaten, die unter einem Wertverlust ihres Zahlungsmittels leiden, verstärkt um die Beschaffung von Devisen - was Besitzern von Dollar, D-Mark und Yen bei der Abwicklung solcher Geschäfte mit Abhängigen sehr zugute kommt. Schon die Stärke des verfügbaren Geldes übt so Einfluß auf die Erfolgsaussichten in der weltweiten Konkurrenz aus.

Auswirkungen der Globalisierung auf die bürgerlichen Staaten: Der Wettbewerb um die Standortattraktivität und seine Folgen
Mit dem voranschreitenden Bedeutungsverlust national eingegrenzter Geschäftsräume sind staatlich erlassene Zölle auf der einen Seite nicht mehr in dem Maße zum Schutz der nationalen Unternehmen notwendig, da diese ohnehin global operieren, sondern würden ein Hindernis in der Konkurrenz der Staaten um Ansiedlung investitionswilligen Kapitals und für den Warenfluß im Wirtschaftsraum darstellen. Auf der anderen Seite müssen, je nach Schutzbedürftigkeit bestimmter Industriezweige aufgrund günstiger produzierender Konkurrenz oder ihrer nationalökonomischen Notwendigkeit (z.B. Schwermetall als Voraussetzung zur Kriegsführungsfähigkeit, Computertechnik) Ausnahmen gemacht werden.
Genauso wie Umweltschutz- und Arbeitsrechtsbestimmungen und andere hoheitlich gesetzte Rahmenbedingungen haben Zölle Auswirkungen auf die Attraktivität für das eben diese Bedingungen abwägende Kapital: Lockt eine sehr geringe Kostenbelastung bestimmter Produktionszweige durch diese Regelungen, lassen sich entsprechende Betriebe bevorzugt in solchen günstigen Gegenden nieder. Auch Steuern und Subventionen haben Auswirkungen auf die Qualität des Kapitals und die Quantität seiner Profite, und deren größtmögliche Höhe ist vitales Interesse jedes Staates.
In diesem Zusammenhang wird der "Sozialstaat", früher zentraler Bestandteil des westdeutschen Kapitalismusmodells, da in wichtigen Produktionsbereichen Arbeitskräfte auf hohem Bildungsniveau benötigt wurden und den Bürgern die Überlegenheit der sozialen Marktwirtschaft gegenüber den östlichen Mißwirtschaften vor Augen geführt werden sollte, zunehmend zum Attraktivitätsmalus in der weltweiten Standortkonkurrenz. Der aktuelle politische Vorteil dieser relativ hohen sozialen Standards liegt jedoch darin, daß massenweise Handlungsspielraum bei ihrem Abbau gegeben ist - im Unterschied zu Ländern, die schlicht keine Standards besitzen, die sie noch abbauen könnten, ohne kontraproduktive Wirkungen zu erzielen.
Die behauptete Übereinstimmung der individuellen mit den nationalen Interessen entpuppt sich als ihr Gegenteil, was auch offen ausgesprochen wird im Appell, Opfer zu bringen für den Standort. Folgerichtig verlagert sich die staatliche Betreuung der Bevölkerung in weiten Bereichen allmählich von der "sozialen" auf eine unmittelbar gewaltförmige Basis (Kürzung/ Einstellung der Arbeitslosenhilfe und niedrig entlohnte Zwangsarbeit statt relativ abgesicherter Versorgung). Der Staat entwickelt sich zu einem noch kompromißloseren Verfechter der Rentabilität der Arbeit und versucht, sich von allen unnötig gewordenen Kosten zu befreien, indem er sich aus den entsprechenden Bereichen zurückzieht (Neoliberalismus). Er kann die von den kapitalistischen Staaten durch den Weltmarkt selbst gesetzte Globalkonkurrenz nur mitmachen oder ist gezwungen, komplett auszusteigen - was zur wirtschaftlichen Isolierung führen würde.
Dieser Prozeß hat kein absehbares Ende, denn der Wettbewerb der Standorte kennt keine Rücksichtnahme auf das ihm unterworfene Menschenmaterial.

Die Voraussetzungen und Ziele der Währungsunion
Bemerkenswert an der Entwicklung der EU ist die Abfolge der einzelnen wirtschaftspolitischen Schritte. Der gewöhnliche Gang der kapitalistischen Indienstnahme der Welt basierte meist auf der Eroberung staatlicher Machtsphären als Grundbedingung für späteres Erzielen ökonomischen Profits. Beim Projekt EU verläuft es umgekehrt: Mit der Währungsunion wird ein Geldsachzwang geschaffen, um von diesem selbst gesetzten Zwang zur gemeinsamen Entwicklung ausgehend einen europäischen Machtblock zu installieren. Der Weg zur Europäischen Union soll unumkehrbar werden, was insbesondere im Interesse Deutschlands liegt, das sich dabei auf die bestehenden Machtverhältnisse zwischen den involvierten Ländern und seine ökonomische Stärke verlassen kann.
Die Einführung des Euro soll vor allem die Abwertung von Kapitalerträgen, wie sie bisher bei schwachen Nationalwährungen der Fall war, verhindern, läßt aber auch die Kontrolle der Finanzpolitik der beteiligten Staaten zur gesamteuropäischen Sache werden, da nun die Stärke einer gemeinsamen Währung von Maßnahmen wie der Aufnahme von Schulden betroffen ist. Damit geht die Verpflichtung einher, zugunsten eines vereinheitlichten Wirtschaftsraumes und seiner Konkurrenzfähigkeit bestimmte Einschränkungen in der Verfügungsgewalt über die eigenen Geldangelegenheiten hinzunehmen: Das gemeinsame Blockinteresse muß in vielen Fällen höher bewertet werden als so manche Einzelinteressen innerhalb des Blockes, für die Teilnehmer schmerzhaft erfahrbar an den (umstrittenen) Sanktionen bei Nichterfüllung der Stabilitätskriterien: Es gibt genaue Vorschriften darüber, in welchem Rahmen die beteiligten Ökonomien Schulden aufnehmen dürfen, ohne die gemeinsame Währung zu schädigen, und Festsetzungen der zugelassenen Höhe des Haushaltsdefizits. Die notwendigen Souveränitätsabstriche führen dann auch überall zu Streitereien zwischen Befürwortern und Gegnern der verschiedenen Optionen (EU befürworten oder ablehnen? Stabilitätskriterien aufweichen oder Einführung des Euro verschieben?), beide gleichermaßen besorgt ums nationale Wohl.
Hierin liegt das zentrale Dilemma der ganzen Sache: Es besteht ein großer Unterschied zwischen Zollunion und Binnenmarkt einerseits und Währungsunion und den "Vereinigten Staaten von Europa" andererseits. Fallen beim ersten Schritt lediglich Hindernisse für den zwischenstaatlichen Kapitalverkehr weg, handelt es sich beim zweiten um ein weitaus schwierigeres und einschneidenderes Unterfangen, nämlich um die Zusammenfassung unterschiedlich starker Nationalökonomien und -währungen in einen gemeinsamen Block, dessen Zweck der Bestand bzw. möglichst die Dominanz im wirtschaftlichen und politischen Wettbewerb zwischen den Großräumen USA, (Süd-)Ostasien und Europa ist.
Diese Vereinheitlichung ist einerseits unabdingbare Voraussetzung für den Erfolg und könnte andererseits Ursache für ein eventuelles Scheitern des Projektes EU werden.

Thesenpapier, veröffentlicht 1997.