10.04.2013 PDF

Mali – und noch ein Anti-Terror-Krieg

Nachrichten aus einem unbekannten Land

Südlich von Algerien liegt Mali. Ein Land, von dem der geneigte europäische Zeitungsleser bis vor wenigen Monaten keine Ahnung hatte.In letzter Zeit häuften sich die Berichte über islamistische Gruppierungen, die sich im Norden des Landes breit gemacht haben. Zudem engagieren sich dort Kämpfer, die sich als Teil eines sogenannten Volksstammes – der Tuareg – sehen. Sie haben mit dem politischen Islamismus als Programm nichts am Hut und wollen im Norden Malis einen eigenen Nationalstaat gründen. Mal kooperieren die Tuareg wohl mit den Islamisten, mal bekämpfen sich diese Gruppierungen untereinander. Ein genaues Bild gibt es nicht, weil wohl alle Gruppierungen kein Interesse daran haben, die Weltöffentlichkeit über ihre konkreten Vorhaben und Taten zu informieren – Presseleute sind nicht gerne gesehen und leben gefährlich.

Dennoch erscheinen in den deutschen Zeitungen regelmäßig Berichte über archaische Justizmethoden seitens der politischen Islamisten (Handabhacken bei Diebstahl, öffentliche Steinigungen) und eine rigide Repression gegen Frauen. Dass diese Berichte stimmen – zumindest dass die politischen Islamisten derlei veranstalten – ist anzunehmen. Was die Tuareg vor Ort genau machen, abgesehen davon, dass sie einen Landesteil abspalten wollen, erfährt man aus der Zeitungslektüre nicht. Von den mittel- oder langfristigen Zielen aller Gruppierungen, also welche gesellschaftlichen Regeln sie durchsetzen wollen und was für ökonomische Vorstellungen sie für den Norden Malis haben, auch davon ist zumindest bis Mitte Januar 2013 nichts zu lesen.

Bis vor einem Jahr, so konnte man lesen, gab es einen demokratisch gewählten Präsidenten in Mali. Der wurde im März 2012 von Offizieren weggeputscht, die ihm im Kampf gegen die separatistischen Bestrebungen im Norden des Landes Versagen vorwarfen. Der Putsch wiederum sorgte anscheinend vor allem dafür, dass sich die Gruppierungen im Norden erst recht stabilisieren konnten. Mit dem Putsch war Europa überhaupt nicht einverstanden und fror infolgedessen Gelder ein, die Mali davor wohl regelmäßig bekommen hat.

In Zusammenarbeit mit interessierten Nachbarländern von Mali bereiteten ab Herbst 2012 europäische Staaten eine Ausbildung der malischen Armee vor, damit diese die Gruppierungen im Norden langfristig erfolgreich bekämpfen würde können. Die Gruppierungen im Norden kamen diesem Plan zuvor und rückten in den Süden des Landes vor.

Frankreich schaltet sich nun im Januar 2013 mit seiner Luftwaffe und Bodenkampftruppen direkt in den Bürgerkrieg ein. Dieser Kriegseinsatz wird von den europäischen Bündnispartnern allseitig begrüßt, auch Russland und China stellen sich nicht dagegen. Nachdem sich Deutschland bei dem internationalen militärischen Einsatz in Libyen nur neutral verhalten hat, unterstützt es jetzt Frankreich logistisch in der Kriegsführung. Mit Ausnahme der Linkspartei finden das alle deutschen Parteien gut.

 

Kriegsgründe und Kriegslegitimationen – kein Eigeninteresse?

Worum geht es in dem Krieg? Wie so oft gehen in der Öffentlichkeit Kriegsgründe, Kriegsanlässe und Kriegslegitimationen bunt durcheinander.

Der französische Präsident Hollande „betonte, sein Land verfolge `kein Eigeninteresse in Mali.` Ziel der Intervention sei es, der malischen Regierung dabei zu helfen, die `territoriale Integrität` zurückzuerobern.“ (FAZ, 17.01.2013, S. 1)

Was soll das? Ganz uneigennützig hat Frankreich zufällig in der ganzen Region Militärstützpunkte und scheut mitten in der europäischen Staatsschuldenkrise keine militärischen Kosten, um selbstlos zu helfen?

Das sieht aus wie Schönfärberei, ist aber im Kern etwas anderes. Solche Reden sind Ausdruck davon, dass ein Krieg legitimatorisch wie objektiv nicht mehr einfach eine Sache zwischen zwei Staaten ist. Weil das Interesse moderner kapitalistischer Staaten die ganze Welt ins Auge fasst, gibt es keinen Krieg, der nicht zumindest die potenten Nationen mittelbar berührt. Jeder Krieg zwischen zwei Staaten hat deshalb das Potential in einen Weltkrieg auszuarten. Im Völkerrecht haben sich die Staaten der Welt auf Regeln geeinigt, wann ein Krieg legitim ist und wann nicht. Die militärisch überlegenden Staaten haben so allen Staaten der Welt deutlich mitgeteilt, dass einen Krieg zu führen nicht mehr einfach die souveräne Entscheidung eines Staates ist. Sie haben so klargestellt, dass sie immer mitreden wollen. Von den anderen Staaten aus gesehen ist das Völkerrecht jetzt die Pflicht, den anderen Staaten die eigenen Kriegsgründe plausibel zu machen, dann aber auch die Chance, bei einem Krieg nicht gleich den Rest der Welt im Nacken zu haben, ja vielleicht sogar Unterstützung zu bekommen. Was im Völkerrecht verboten ist, ist ein Angriffskrieg, also ein Krieg, bei dem ein Staat schlicht gegen einen anderen Staat sein Interesse mit Gewalt durchsetzen will. Jetzt wissen Staatsführer selbst am Besten, dass sie selbst nur dann einen Krieg führen, wenn es im nationalen Interesse ist. Das Völkerrecht sorgt dann nicht dafür, dass es gar keinen Krieg mehr gibt, sondern dass jede kriegsführende Partei Gründe angeben muss, die mehr sind als bloß das eigene Interesse.

Ob sich Staaten an diese Regeln halten müssen (bzw. sollten), ist immer noch eine Frage der Gewalt, also wie viel Kriegsmaschinerie man auf sich vereinigen kann. Dennoch halten sich die Staaten daran, sich gegenseitig mehr Gründe als das bloße nationale Interesse für einen Krieg zu nennen, und diese Gründe beziehen sich immer auf einen höheren Maßstab. In diesem Falle behauptet der französische Präsident glatt, gar kein Eigeninteresse zu haben, sondern dem hohen Gut der staatlichen Integrität zum Durchbruch verhelfen zu wollen. Dass Frankreich kein Eigeninteresse hätte, stimmt nicht – und das weiß jeder Politiker und jede Zeitungsredaktion. Als Heuchelei mag das aber auch keine Zeitung kritisieren, letztlich, weil ihnen der Krieg passt.

 

„Territoriale Integrität“ als Kriegsziel?

Die territoriale Integrität Malis ist als Ziel immerhin etwas, was Frankreich in diesem Krieg tatsächlich interessieren könnte. Erstmal hieße das: Frankreich will, dass Mali ein Staat bleibt, vor allem, dass Mali von der Hauptstadt aus regiert wird und dass das Gesetz flächendeckend gilt. Zweitens aber soll Mali von den Richtigen regiert werden. Und das heißt zusammen, dass die Gruppierungen im Norden militärisch fertig gemacht, also besiegt werden müssen. Denn diese Gruppen bestreiten durch ihre Bewaffnung und eigene Rechtsprechung das Gewaltmonopol der Hauptstadtregierung und sind auch nicht die von der EU gewünschten Machthaber in einem ungespaltenen Mali.

Aber auch hinter das Kriegsziel „die `territoriale Integrität` zurückzuerobern“ ist ein doppeltes dickes Fragezeichen zu setzen. Erstens: Trifft „zurückerobern“ eigentlich zu, wenn es vorher gar kein richtiges funktionierendes Gewaltmonopol gab? Immerhin hat es in der Geschichte von Mali immer mal wieder Tuareg-Revolten gegeben. Militante politische Islamisten scheinen sich auch nicht erst seit gestern in der Sahel-Zone aufzuhalten, wenn bereits die USA ab 2002 versucht hat malische Soldaten für den Kampf gegen Terror in der Wüste auszubilden. Ausgerechnet drei dieser ausgebildeten Eliteeinheiten haben sich dann 2006 gegen die malische Zentralregierung gewandt. Die Malische Armee soll im Jahr 2012 aus 4000 bis 6000 Soldaten bestanden haben, die monatelang auf ihre Löhne warten mussten – und das bei einem Land das doppelt so groß ist wie Frankreich.1 Wann also gab es in den letzten Jahren in Mali überhaupt sowas wie eine territoriale Integrität? Was heißt also hier „zurückerobern?“, müsste es nicht heißen, dass diese überhaupt erst durch einen Krieg geschaffen werden soll?

Hier ist das zweite Fragezeichen zu machen: Frankreichs Krieg vertreibt die politischen Islamisten aus den Städten in der Mitte Malis und dann macht Frankreich stopp. Jetzt sollen die afrikanischen Truppen aus Mali und den Nachbarländern weiter machen mit dem Kampf „gegen den Terror“ in der Wüste. Dabei will die europäische Union die afrikanischen Truppen mit Geldern, Ausbildern und Waffenlieferungen unterstützen. Es heißt aus den europäischen Hauptstädten, dass dies ein dauerhaftes Projekt sein wird. Ist damit nicht schon ausgedrückt, dass die Europäer selber nicht glauben, dass das die „territoriale Integrität“ wirklich einmal hergestellt werden wird? Darauf wird zurückzukommen sein. Erstmal eine weitere Kriegslegitimation aus dem Haus der EU:

 

Die Freiheit des Volkes als Kriegslegitimation

Die EU-Außenbeauftrage Catherine Ashton sagte vor dem Europaparlament: „Es ist wichtig, dass die Aufständischen verstehen, dass die Staatengemeinschaft zusammensteht, um das malische Volk gegen diejenigen zu unterstützen, die ihm ein undemokratisches und gewaltsames Regime aufzwingen wollen.“ (FAZ, 17.01.2013, S. 2)

Auch Ashton versteht die Kunst, einen Krieg als uneigennützig darzustellen. Während Hollande noch sagt, er helfe der malischen Regierung, sagt sie, dass das eigentliche Hilfsobjekt das malische Staatsvolk sei. Dass ein beträchtlicher Teil der von der Regierung beanspruchten Bevölkerung (die kämpfenden Tuareg und die Islamisten) scheinbar gar nicht malisches Volk sein will – scheißegal. Dass sie gerade einem Regime in der Hauptstadt zur umfassenden Gewalthoheit in ganz Mali verhelfen will, also allemal ein gewaltsames Regime will – scheißegal. Dass die aktuelle malische Regierung sich an die Macht geputscht hat – hier zunächst scheißegal.

Denn an anderer Stelle wird den jetzigen Kriegspartnern in der Hauptstadt durchaus mitgeteilt: „Parallel zu diesen militärischen Planungen sucht die EU den politischen Druck auf die Führung in Bamako (der Hauptstadt) zu erhöhen. Zu dem Treffen am Donnerstag wurde auch der malische Außenminister Tieman Hubert Coulibaly geladen. Ihm soll noch einmal deutlich gemacht werden, dass die Europäer eine Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung und Wahlen erwarten. Als Druckmittel dienen 90 Millionen Euro Haushaltshilfe und 140 Millionen Euro Projekthilfe, deren Auszahlung die EU nach dem Putsch im vergangenen Jahr eingefroren hat.“ (FAZ, 17.01.2013, S. 2)

Kurzum: Die Berufung auf das malische Volk, dem geholfen werden soll, ist ein umständlicher Weg, um zu sagen: Wir wollen einen malischen Staat, in dem die Gruppierungen im Norden nichts zu sagen haben. Das eigene Interesse an einer ganz bestimmten politischen Ordnung in Mali, das jetzt mit Militärgewalt gegen einige Menschen durchgesetzt wird, wird so ausgedrückt, als ob die Menschen vor Ort sich anderes gar nicht wünschen könnten.

In der Berufung auf das (fremde) Volk für den eigenen Kriegszweck liegt noch eine weitere Konsequenz. Wer von der ansässigen Bevölkerung sich das nicht wünscht, gehört dann halt nicht zum Volk und ist zum Abschuss frei gegeben. Wenn sonstige Menschen dabei draufgehen, dann ist das nur ein unvermeidlicher Nebeneffekt ihres (angeblich) eigenen Freiheitsdranges, der eben nur die Ordnung will, die die EU für Mali vorgesehen hat.

 

Europa im Sahel

Also die Frage auf den Tisch: Was will Frankreich bzw. die westliche Staatenwelt jetzt wirklich von Mali und warum ist dafür ein Krieg fällig?

2011 wurde von der EU die Sahel-Strategie beschlossen, eine Vereinbarung unter den Europäern, was sie von der Sahel-Zone und den darüber herrschenden Staaten – u.a. Mali, wollen.2 Diese Strategie ist nicht so neu, sie steht in einer mindestens zehnjährigen Tradition vorheriger Beschlüsse. Das liest sich dann so. Die Staaten sollen...

Erstens den mit westlichen Firmen abgewickelten Rohstoffabbau und -export sichern.

Zweitens solche politische Bewegungen des politischen Islamismus bekämpfen, die vom Westen als unliebsam definiert werden (es gibt ja auch solche, die sind in anderen Regionen dem Westen auch recht, dann heißen sie „Freiheitskämpfer“ und nicht „Terroristen“).

Drittens soll das Geiselgeschäft in der Sahel-Region unterbunden werden (immer wieder werden im Sahel Menschen mit westlicher Staatsbürgerschaft entführt, um von deren Regierungen Lösegelder zu erpressen).

Viertens soll der Drogenschmuggel unterbunden werden (Südamerikanisches Kokain und marokkanisches Haschisch nimmt seinen Weg nach Europa über die Sahel-Zone).

Fünftens sollen die Staaten arme Menschen aus Afrika davon abhalten nach Europa zu kommen. Die Flüchtlingsbekämpfung der EU soll im Herzen von Afrika beginnen.

Alle diese Ziele will die EU nicht in kolonialer Form umsetzen, also indem sie selber sich in der Sahel-Zone breit macht und selber den Staat vor Ort organisiert. Alle diese Ziele sollen die Staatsgewalten vor Ort für die EU umsetzen. Dafür müssen die Staatsgewalten vor Ort aber nicht nur ein Interesse entwickeln, den Wünschen der EU nach zu kommen, sondern sie müssen überhaupt in der Fläche funktionieren. Und da sieht es nicht nur in Sachen Mali mau aus.

 

Mali – ein Staat der seine eigene ökonomische Grundlage nicht herbeiregieren kann

Ein flüchtiger Blick auf Wikipedia verrät einem einiges über die trostlose Lage der Menschen in Mali und die Einordnung des Landes in die westliche Weltordnung. Mehr als ein Drittel der Bevölkerung hat keinen sicheren Zugang zu Trinkwasser, 30% sind arbeitslos und 75% der über 15jährigen sind Analphabeten. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei ca. 48 Jahre, es gibt weit verbreitete Mangelernährung.

Wirtschaftlich dominiert – unter schwierigen Naturbedingungen – die Landwirtschaft, eine große verarbeitende Industrie besitzt das Land nicht. Ansonsten hat sich über den Tourismus der Dienstleistungssektor etwas entwickelt und vor allem werden in Mali Gold und einige andere Rohstoffe für den Export abgebaut. Die abbauenden Unternehmen kommen aus dem Westen und die Regierung verdient an den Lizenzen, die sie den Unternehmen verkauft. Damit die Unternehmen sich derartig engagieren können, lässt die Regierung schon mal hunderte von Dörfern räumen.

Jeder Staat – egal, wer den aus welchen Gründen führt – setzt seine Gewalt dafür ein, dass die Gesellschaft vor allem erstmal ihm die Überschüsse liefert, mit denen er seine Gewalthoheit behaupten kann. In Mali gelingt dieses Projekt nicht. Dass die Menschen überwiegend kaum über die Runden kommen ist ein Ausdruck davon dass der malische Staatszweck in Sachen Gewalterhalt durch die (Binnen-)Ökonomie, über die er herrscht, nicht klappt. Die dortige Armut ist also nicht Ausdruck davon, dass die Menschen dem Staat viel Überschuss abliefern, sondern sie ist Ausdruck davon, dass sie kaum Überschüsse erwirtschaften.

Der Gewalterhalt gelingt nur über die Abhängigkeit vom Ausland. Die Gewalt finanziert sich über die Lizenzvergabe an westliche Rohstoffkonzerne. Daher ist es kein Wunder, dass eine solche Staatsgewalt den Interessen der Unternehmen Vorrang einräumt, wenn sie mit den Dörfern die lokale Ökonomie dafür ggf. aus dem Weg räumt. Aber auch die Lizenz-Gelder reichen nicht, was die Verschuldung im Ausland anzeigt. Mali gehört zu den Heavily Indebted Poor Countries (HIPC) und steht unter dem Regime des IWF. Und auch der politische Kredit aus dem Westen reicht nicht, um eine flächendeckende Gewalthoheit aus der Hauptstadt heraus zu kreieren. Daher wird Mali vom Westen schon länger unter die Kategorie gescheiterter Staat (failed state) verbucht.

Da es in einer solchen Ökonomie einfach keine wirtschaftliche Entwicklungsperspektive für die Menschen vor Ort gibt, liegt es Nahe, zu versuchen an die Macht zu gelangen, um darüber unmittelbar sich, Familie und Clan gut zu finanzieren. Vom Westen wird sowas als Korruption bezeichnet. In Wirklichkeit gehört das einfach zur Politökonomie eines Rohstoffexportlandes der Sorte Mali dazu. Die Regierungsmitglieder bereichern sich. Sie sorgen mit entsprechend entlohnten Gefolgsleuten dafür, dass der Rest der Bevölkerung, der eigentlich überflüssig ist, die Schnauze hält. Der Westen unterstützt die Regierungen dabei mit finanziellen Mitteln und der Ausbildung des Militärs, damit seine Konzerne Gewinne machen und für einen sicheren, preislich günstigen Rohstofffluss gen Westen sorgen.

Das geht durchaus mit einem Nationalismus einher, also einer politischen Einstellung, die über den bloßen Lebensunterhalt oder die Bereicherung hinausgeht. Der Wunsch nach einem Staat, der der Bevölkerung in ihren Konkurrenzbemühungen helfen soll, indem er sie gerecht und Weise beschränkt und fördert, so dass das Volk insgesamt (also nicht jeder einzelne) darüber ökonomisch so erfolgreich ist, dass es dem Staat Macht verschafft, ist in Mali vorhanden. Jeder Nationalist entdeckt so im Gebahren der aktuellen Regierung einen nationalen Verrat und den Auftrag zum Putsch. An die Macht gekommen, lernt derselbe Nationalist, dass er als Vorbedingung für das eigentliche Projekt sich erstmal dem Ausland andienen muss. So kommt dann dieselbe Regierungspolitik heraus, gegen die man sich aufgelehnt hatte und begegnet neuen Putschisten, die einem selbst Korruption vorwerfen.

Daher ist es kein Wunder, dass in solchen Staaten immer wieder Gruppen auf die Idee kommen, sich selbst an die Macht zu putschen oder Landteile abzuspalten, um neue Nationen zu gründen – so z.B. die MNLA (siehe hierzu als Beispiel auch die Texte auf der Homepage zum Sudan: „Ein neuer Staat für Afrika...“ und „Die Intervention in den Sudan: Noch ein Beweis dafür, dass es ohne Weltpolizei nicht geht“). Immer wiederkehrende Bürgerkriege machen dann selbst die Existenz von Menschen als armselige Landwirte zu Nichte. Auf der Flucht vor den beschissenen Wirtschaftsbedingungen und Bürgerkriegen versuchen dann einige nach Europa zu kommen, wo sie der Westen wiederum mit einem hohen Sicherheitsaufwand über das Mittelmeer abschiebt, wenn die Flüchtlinge überhaupt lebend Europa erreichen. Eine unterlegende Bürgerkriegspartei setzt sich in aller Regel ins Nachbarland ab und versucht, von dort an die Macht zu kommen. Oder aber sie versucht direkt im Nachbarland die Macht zu übernehmen.

 

Der „failed state“ als politische Bühne der Islamisten

Der politische Islamismus ist eine besondere Frucht nicht nur des „failed state“ Mali. Aus vielen Ländern, die mit dem Westen im sogenannten Kampf gegen den Terror zusammen arbeiten, mehr oder minder erfolgreich verdrängt, haben sich im Norden von Mali mittlerweile drei Gruppierungen breit gemacht, die im Namen Allahs den heiligen Krieg führen. Sie versuchen ihre Version einer moralisch korrekten Gesellschaft einzurichten. Dort, wo sie etwas Hoheit gewinnen, scheinen die international eingestellten Islamisten ihresgleichen für Kämpfe in aller Welt auszubilden. Im Westen gelten sie einfach als verrückt und bloß mörderisch, was Ausdruck davon ist, dass der Westen sie kompromisslos bekämpfen will. Das drückt sich auch darin aus, dass sie deren Kampf als „Terror“ bezeichnen. Damit spricht der Westen aus, dass sie deren Gewalt als nicht legitim behandeln wollen. Die politischen Islamisten seien keine Politiker, die wie andere Politiker auch mit Gewalt ihre Vorstellungen über die Gesellschaft durchsetzen wollen, sondern Leute, die einfach nur Gewalt ausüben wollen, quasi als Selbstzweck.

Was der Islamismus als politische Bewegung ist, dazu sei auf den Text „Der Islamismus – Konsequenz, Erbe und Konkurrent eines unzufriedenen arabischen Nationalismus“ verwiesen (siehe www.gegen-kapital-und-nation.org). Hier sei das Programm nur kurz umrissen. Der Islamismus als politische Bewegung hat seinen Ausgangspunkt in der Betrachtung von Ländern, deren Alltagskultur und politische Ordnung sich bereits auf den Islam stützen (so wie Deutschland etwa kulturell christlich geprägt ist). Dies sind Länder, die in der weltweiten Staatenkonkurrenz relativ weit unten angesiedelt sind; Länder, die meist nur als Rohstofflieferanten für den erfolgreichen Westen funktionieren, über Kredite vom Ausland abhängig sind und ansonsten für die Bevölkerung nur flächendeckende absolute Armut zu bieten haben. Als Nationalisten stört die Islamisten das Leid und das bescheidende Leben der Bevölkerung als solches nicht sonderlich, allerdings entdecken sie in diesem armseligen Leben ein weiteres Indiz dafür, dass die Nation nicht die Größe, den Glanz oder die Bedeutung in der weltweiten Staatenhierarchie hat, die sie ihr zusprechen. Für Nationalisten ist eine Massenarmut gut, wenn sie die Nation voranbringt (siehe hierzulande z.B. das Lob auf die Agenda 2010), sie ist aber schlecht, wenn sie nur Ausdruck davon ist, dass sich die Menschen nicht nützlich für die Nation machen (können). Als Nationalisten glauben sie an die Kraft des Staatsvolkes als Basis für die Größe der Nation. Dass die Nation in der Staatenhierarchie so glanzlos da steht, liegt in ihren Augen auch daran, dass das Staatsvolk nicht die richtige Einstellung für die nötige Kraftanstrengung habe. Die Religion wird politisch radikalisiert gewendet: Die mangelnde oder vernachlässigte Gläubigkeit gilt den Islamisten als Hauptursache für das (angeblich) verfehlte Verhalten der Bevölkerung. Dieser Schluss wird gegen die Regierungen in den jeweiligen Ländern verlängert. Sie hätten es versäumt, dem Staatsvolk die richtige Moral beizubringen, sie hätten also schlecht regiert. Statt die Nation zur Sonne zu führen, würden sie die Nation untergraben.

Mit dem Drang des Westens, die Welt mit Waren und Dienstleistungen für das eigene nationale Wirtschaftswachstum in Anspruch zu nehmen, verbreite er lauter schädliche Einstellungen in den Regierungen und in der Bevölkerung derjenigen Nationen, die den Islamisten am Herzen liegen. Diese Einstellungen stehen nach Ansicht der Islamisten ihrem gewünschten nationalistischen religiösen Aufbruchsprogramm im Wege. Der Islamismus als politische Bewegung hat einerseits einen stark internationalen Charakter, orientiert sich andererseits politisch überwiegend an nationalen Grenzen. Manche Bewegung verurteilt allerdings den Nationalstaat selbst als Fessel und hält die Umma als Weltislamgemeinschaft für den senkrechten Weg.

So war das ursprüngliche Ziel von „Ansar Dine“ (einer der wichtigsten islamistischen Gruppierungen in Mali) nicht die Schaffung von einem neuen Tuareg-Staat Azawad, sondern das Bekehren des gesamten Mali zu „wahren islamischen Leben“. Für die Islamisten von AQMI (al-Qaida im islamischen Maghreb) ist die Tatsache, dass Tuaregs Moslems sind und eine vom Westen unterstützte Regierung bekämpfen, handfester Einmischungsgrund mit dem Kalkül: Beim gemeinsamen Kampf wird man die Glaubensbrüder schon auf Linie bringen. Mujao („Bewegung für Einheit und Dschihad in Westafrika“) scheint eher in den Regionen der Subsahara Anklang zu finden und sich von arabisch dominierten Al-Quida abzusetzen.

Der politische Islamismus arbeitet sich also an der Armut vor Ort und am Imperialismus des Westens ab und ist, so wie er das macht, nicht mit einer vernünftigen Kritik zu verwechseln, die ihren Ausgangspunkt am Leid der Menschen auch in der Peripherie nimmt. Er ist – eingedenk der Besonderheit einiger Islamisten, die einen Groß- oder Weltstaat Umma anstreben – im Großen und Ganzen ein nationalistisches Scheißprogramm.3

 

Eine Eigentümlichkeit der EU-Sahel-Strategie

Auf der anderen Seite ist der ekelhafte Charakter des politischen Islamismus kein Grund, dann dem westlichen Kriegsprojekt die Daumen zu drücken. Das postkoloniale Konzept der westlichen Mächte, das in Mali gegen die Islamisten und Separatisten verteidigt werden soll, hat es nämlich in sich. Der Weltmarkt, auf dem sich die überlegenden Nationen durchsetzen, hat noch nie auf ein Land wie Mali gewartet. Der Grund liegt nicht einfach in den schlechten Startbedingungen aufgrund der Kolonialzeit, sondern im Weltmarkt selber begründet. Wo konkurriert wird, da gibt es neben den Gewinnern immer Verlierer. Die ökonomische Abhängigkeit vom Ausland führt nicht zu einer Entwicklung der Ökonomie, vielmehr ist dies eine wunderbare Situation für westliche Konzerne günstige Lizenzverträge auszuhandeln. Den politischen Kredit aus dem Ausland, gibt es wiederum nur, wenn die malische Gewalt sich für die westlichen Interessen anstrengt, etwa die Flüchtlinge aus dem eigenen Land festhält oder Transitflüchtlinge dingfest macht. Wo sich über den Drogenhandel mal ein neues Geschäftsfeld für die Leute in Mali ergibt, soll der malische Staat sie bekämpfen.

In einer ganz anderen Hinsicht ist das Programm des Westen eigentümlich. Einerseits sind die Ansprüche an Mali solche, die eine funktionierende Staatsgewalt vor Ort voraussetzt. Andererseits will der Westen den malischen Staat offensichtlich gar nicht in die Lage versetzen, diese Aufträge ordentlich auszuführen. Dieser Aufwand ist es dem Westen nicht wert. Umso mehr besteht der Westen aber darauf, dass Mali sein äußerstes versuchen soll, um den Zielen des Westen hinterher zu kommen.

Dazu ein Vergleich: Die USA wollte nach dem 2. Weltkrieg Deutschland und Japan zu Staaten machen, die als Baustein in der Bekämpfung des Ostens funktionieren sollten. Die USA hat dafür diesen Staaten die Schulden gestrichen und mit einem Marshallplan tatsächlich eine Unterstützung geliefert, über die sich Deutschland und Japan sogar zu ökonomischen Weltmächten mausern konnten. So etwas ist für die Sahel-Zonen-Länder überhaupt nicht vorgesehen. Nichts wird an der ökonomischen Basis geändert. Die Grundlage des „failed state“ Mali bleibt also bestehen. (Um die Aussichten für die dortige Bevölkerung schert sich eh kein Schwein.)

Verhindert wurde, dass die politischen Islamisten ganz Mali erobern, man hat sie zurück in die Wüste geschickt. Jetzt Stopp und den afrikanischen Staaten, die selber lauter „failed states“ sind – ja was eigentlich überlassen? Dauerhaft die politischen Islamisten zu drangsalieren und die EU weiß, dass das ein dauerhaftes Projekt ist, also auf dieser Grundlage gar nicht vollständig gelingen wird.

In der Sahel-Strategie der EU von 2011 wird zwar immer davon geredet, dass die staatlichen Instabilitäten sich der ökonomischen Armut verdanken und daher ökonomische Entwicklung notwendig sei. Das wird dann aber wiederum so gewendet, dass für eine ökonomische Entwicklung staatliche Stabilität notwendig sei. In den konkreten Aktionen der EU ist dann nur noch von Sicherheit die Rede. Kein Wunder: Wenn die Armut der Bevölkerung nur zur Sprache kommt als potentielle Unruhestifter, dann soll eben nicht das Elend weg, sondern die Störenden.

Die Praxis der EU sieht dann so aus: Die rudimentäre staatliche Gewalt vor Ort durch Geld und Ausbilder unterstützen – begrenzt. Immer, wenn die etwas nicht bewältigt bekommen, was die EU für einen besonders großen Störfall halten, wird selber einmarschiert, wie jetzt durch Frankreich. Wo es besonders dringlich ist, da stellen die westlichen Länder gleich das Sicherheitspersonal, wie z.B. beim Uranabbau im benachbarten Niger. Für diese besonderen Situationen, werden Militärstützpunkte in der Region errichtet und unterhalten.

So werden die Staaten in der Sahel-Zone in einem Zustand des „failded state“ gehalten, den es zu betreuen gilt. Mit allen brutalen Konsequenzen für die Bevölkerung vor Ort.

 

Demokratie für Afrika – den fragilen Zustand bitte nicht zusätzlich schwächen

Der Westen arrangiert sich mit den Instabilitäten, die notwendig zu der Politökonomie eines „failed state“ dazu gehören, der aus der Stellung in der westlichen Weltordnung erwächst. Damit die schwache Gewalt vor Ort nicht noch zusätzlich geschwächt wird, verlangt die EU in der Sahel-Strategie noch eine weitere Sache:

Es soll so regiert werden, dass die Machtwechsel nicht zusätzlich die Staatsgewalt schwächen – dafür steht „good governance“, „Demokratie“ usw. An Staaten aus deren Gesellschaft mit Notwendigkeit immer wieder der Drang entsteht gegen die aktuellen Machthaber selber an die Macht zu gelangen, wird der Anspruch gestellt: Machtwechsel o.k., aber friedlich.

Daher hat die EU die Putschisten in der Hauptstadt abgestraft, die „Entwicklungshilfe“ und die direkte militärische Unterstützung eingestellt.4

Der Westen war dann aber auch pragmatisch genug, im jetzigen Krieg den Demokratievorbehalt zurückzustellen. Im Vergleich mit den Islamisten, die erstmal garantiert keine Lizenzen für Rohstoffabbau an westliche Unternehmen vergeben würden, ist das Putschregime in der Hauptstadt besser als nix. Also werden die Fördergelder für Mali nun doch an die Putschisten freigegeben und kriegerisch wird mitgeholfen, einen Zustand herzustellen, der es erlaubt, ein Stück Afrika für die nationale Reichtumsmehrung im Westen auf eigentümliche Weise nutzbar zu machen bzw. zu halten.

 

 

1„Keiner weiß, wie viele Soldaten es überhaupt genau gibt. Schätzungen gehen von 4000 bis 6000 aus. Überprüfen lässt sich das nicht.“ http://www.tagesschau.de/ausland/mali512.html; gefunden am 19.03.2013.

2European Union External Action Service, Strategy for Security and Developement in the Sahel. www.eeas.europa.eu/africa/docs/sahel_strategy_en.pdf; gefunden am 04.03.2013.

3Auf die Besonderheit der kämpfenden säkularen Tuareg, ihre Gründe und Ziele geht dieser Text nicht ein. Hier müssen wir uns erst nochmal einarbeiten.

4Eine andere Position vertritt hier der Autor Bernhard Schmid oder die Flüchtlingsselbstorganisierung „Afrique-Europe-Interact“. Sie behaupten, dass die Ablehnung der Putschisten durch die EU seinen Grund in den inhaltlichen Programmpunkten der Putschisten habe, der im wesentlichen nicht auf der Bekämpfung der politischen Islamisten reduziert sei, wie in der westlichen Öffentlichkeit behauptet. Sie schreiben den Putschisten einen mehr oder minder ehrlichen Kampf gegen die Korruption der abgesetzten Elite als Hauptzweck zu. Das sei der EU sauer aufgestoßen und daher wurden die Putschisten unter Druck gesetzt. Ob da was dran ist, also was genau die Putschisten machen wollten, was die EU dann stören hätte können, lässt sich aus den Veröffentlichungen von Schmid und Afrique-Europe-Interact nicht entnehmen. Es bleibt bei Allgemeinplätzen wie, die Putschisten wollten wirklich mal was fürs Volk tun usw., also politische Formulierungen, die noch von jeder Konfliktpartei im Munde geführt werden. Für Afrique-Europe-Interact siehe deren Homepage oder deren Artikel „Krieg in Mali“, in: RLS-Standpunkte International 02/2013. Für Schmid siehe MALI: Frankreich interveniert in Westafrika. http://www.trend.infopartisan.net/trd0213/t520213.html; gefunden am 03.03.2013.