02.01.2004 PDF

Endlich mal ein vernünftiger Nationalismus, präsentiert von Habermas und Derrida

und kritisiert von jimmy boyle: Zwei Rechtsidealisten propagieren einen europäischen Nationalismus und machen sich dabei zu Anwälten des deutschen und französischen Imperialismus

Während die Frankfurter Allgemeine Zeitung eine "akademische Europawelle" (Croitoru, Joseph, Europas Gewalt, FAZ, 29.10.2003) vermeldet, trudeln täglich neue Meldungen über Aufrüstungspläne der EU ein: eigene Weltraumforschung, von der NATO autarke Militäreinheiten, die spätestens 2009 Operationen in der Größenordnung des Kosovo-Einsatzes durchführen können sollen, eigenes Satellitennavigationssystem Galileo, Aufbau einer gemeinsamen Militärindustrie und Schaffung eines europäischen Außenministeriums, ja selbst die deutschen Atombewaffnungswünsche bekommen wieder Aufwind. Eins ist klar: die EU hat noch viel vor. Damit alle Welt die "weiche Macht", die aus den Gewehrläufen kommt, endlich am eigenen Leib erfahren kann.
Hierin eine friedenschaffende Maßnahme zu entdecken, also der militärischen eine ideologische Aufrüstung beiseite zu stellen, ist immer schon vornehmste Aufgabe bürgerlicher Intellektueller gewesen, die sich schnell zu mehr als nur Kulturkämpfern wandeln können. Während früher die Waffen von jenen Intellektuellen gesegnet wurden, die in den Kirchen wohnten, stellt heute noch der letzte europäische Philosoph, Historiker oder Dichter mit Verweis auf den Ewigen Frieden oder McDonalds als amerikanisches Anti-Kulturgut für die Aufrüstung des eigenen Landes oder Staatenbündnisses das Prädikat "besonders wertvoll" aus. Dabei wird ab und zu die europäische Öffentlichkeit als der herrschaftsfreiste Raum für allerlei Diskurse entdeckt, so geschehen im Mai dieses Jahres. Bagdad war gerade gefallen und der übliche Befreiungskitsch mit Statue-Umschmeißen auf leerem Platz über den Äther gegangen. Doch diesmal wurden im Gegensatz zu dem vier Jahre zuvor im Kosovo geleisteten Einsatz für die Menschenrechte dieselben als Verlierer entdeckt, und das massenhaft, beleidigte Intellektuelle noch und nöcher - nicht nur in Old Europe. Dieser Krieg nicht gut, weil wegen Öl geführt. Amerika schon spätestens seit Doris Day verloren, für die Kultur und erst recht für die hohe Moral, von der Europa nur so überschwappt. Über derlei Aussagen kamen nur wenige hinaus.


Als Teil einer jener Intellektuellenoffensiven meldeten sich, wohl nicht ganz zufällig, gerade die linksliberalen Vordenker Europas zu Wort. Darunter Jürgen Habermas und Jacques Derrida, die in der FAZ vom 31.5.03 gleich zwei Seiten unter dem Titel: "Unsere Erneuerung" voll schreiben durften (Da Derrida lediglich seinen Namen unter den Artikel setzte, weil er die "Prämissen und Perspektiven" mit Habermas teilt und auch die "neuen Aufgaben für Europa" sieht, jedoch "aus persönlichen Gründen" nicht mitschreiben konnte, werden wir im weiteren Text nur noch Habermas als Verfasser aufführen).
Ausgangslage war das Problem, dass sich während des Irak-Krieges doch noch ein paar Länder erlaubt hatten, nach der Maxime des nationalen Interesses zu kalkulieren (wo es doch diesmal um Moral gehen sollte) und entschieden hatten, dass man aktuell doch besser an der Seite der USA fährt. Nicht nur für Habermas ist dieses uneinheitliche Auftreten ein Problem. Steht doch eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik bei allen Regierungen der EU auf dem Wunschzettel. Doch wie stellt man die notwendige Toleranz der Staaten und ihrer BewohnerInnen her, die in konkreten Fragen zugunsten einer gemeinsamen Position zurückstecken sollen?


Den aktuellsten Versuch eines deutschen Intellektuellen, dieses Problem zu lösen, machte erst kürzlich Heinrich August Winkler, der unter dem Titel: "Europa am Scheideweg" (FAZ, 12.11.03) ebenfalls seinen Kollegen zum europäischen Nationalismus folgenden sinnreichen Dreischritt ins Stammbuch schrieb: "Ohne überzeugte Europäer kein Europa; ohne ein europäisches Wir-Gefühl keine überzeugten Europäer; ohne das Bewusstsein einer gemeinsamen Geschichte kein europäisches Wir-Gefühl." An diese Aufgabe macht sich die Tage dann eben auch so mancher.
Habermas stellt sich diese Aufgabe auf anspruchsvolle Weise. Das Wir-Gefühl, das er hervorrufen will, soll ein vernünftig begründetes sein. Darum, dass dies nicht gelingt, und warum sein Projekt eines europäischen Nationalismus auch nicht besser - übrigens auch nicht schlechter -, als der scheinbar miefigere nationale Nationalismus ist, wird es im ersten Teil des Textes gehen. Und da ein europäischer Nationalismus Habermas kein Selbstzweck ist, sondern im Dienst eines Höheren, nämlich des ewigen Friedens steht, in die Welt getragen von einer durch Einmütigkeit starken EU, wird auch dies im zweiten Teil des Textes Gegenstand sein: Was ist von der Weltmacht Europa als freundlichem Partner für alle anderen zu halten und ist sie tatsächlich die Negation des Imperialismus? In einem zweiten Text (im Anschluß des folgenden zu finden) wird schliesslich noch einmal konkreter das Verhältnis von Mentalität und Identität innerhalb des europäischen Nationalismus untersucht.

Text 1:
1. Nationalismus


Bisher haben "funktionale Imperative" zum Ausbau der EU geführt. Das stößt nach Habermas nun an eine Grenze. "Eine gestaltende Politik, die den Mitgliedsstaaten nicht nur die Beseitigung von Wettbewerbshindernissen, sondern einen gemeinsamen Willen abverlangt, ist auf die Motive und die Gesinnung der Bürger selbst angewiesen. Mehrheitsbeschlüsse über folgenreiche außenpolitische Weichenstellungen dürfen nur dann auf Akzeptanz rechnen, wenn die unterlegenen Minderheiten solidarisch sind." Dafür braucht es "ein Gefühl der politischen Zusammengehörigkeit" bzw. ein "aufstocken" des vorhandenen Nationalismus um eine "europäische Dimension".
Die Entgegensetzung von "funktionaler Imperativ" und "gemeinsamer Wille" ist sehr aufschlussreich darüber, worum es beim Nationalismus geht: Bisher haben die einzelnen Staaten bei der EU mitgemacht, weil es ihnen jeweils genützt hat. Aus ihren Nutzenkalkulationen (funktional) schien es ihnen geboten (Imperativ), einen Wirtschaftsraum und eine gemeinsame Währung herzustellen. Jetzt rechnen sie wieder ihren Nutzen aus und diesmal kommen unterschiedliche Stellungen zum Irak-Krieg heraus. Einige Länder versprechen sich vom Mitmachen eine höhere Stellung in der Weltordnung, während andere versuchen, durch das Nein ihre Stellung in der Welt zu halten. Ein gemeinsamer Standpunkt zum Irakkrieg bleibt also aus. Habermas meint aber, dass ein wirklich gemeinsamer Wille immer schon gefehlt habe und jetzt fällig wäre. Seine Vorstellung von "gemeinsamer Wille" zeichnet sich also dadurch aus, dass er vorhanden ist, auch wenn der Nutzen für Einzelne ausbleibt bzw. sie eine Schädigung erleiden. Die Europäer sollen solidarisch sein, auch wenn es ihnen nichts nützt; das ist der Inhalt seines "gemeinsamen Willens". Wir wollen hier jetzt kein Mitleid für diejenigen Staaten schüren, die sich nach Habermas zurücknehmen sollen, sondern aufzeigen, welchen irrsinnigen Inhalt der Nationalismus hat: Es ist der Standpunkt, der sich durch nichts als den prinzipiellen Willen zur Unterordnung auszeichnet. Nie fragen, ob mir Deutschland nützt und wenn, dann auf jeden Fall bei "Du bist nichts, dein Volk ist alles" herauskommen oder sich den Spruch von Schröder einleuchten lassen, dass "das Allgemeinwohl nicht das Wohl des Einzelnen bedeutet". Diesen prinzipiellen Unterordnungswillen traut Habermas zu Recht den einzelnen EU-Staaten nicht zu und kommt darüber zu der Aufgabe für europäische Intellektuelle, bei den europäischen Bürgern für einen solchen Nationalismus Werbung zu machen: "Grundsätzlich müssen die Bürger einer Nation die Bürgerin einer anderen Nation als ?eine von uns' betrachten."

Exkurs: Nationalismus und InteresseNationalismus ist der prinzipielle Wille zur Unterordnung unter die staatliche Herrschaft. Nationalisten behaupten dagegen, dass sie sich gar nicht unterordnen, weil sie ja von sich aus für (z.B.) Deutschland sind. Manchmal wird sogar so was wie ein materielles Interesse angegeben, wie: "ich bin für Deutschland, weil es meinen Wohlstand befördert". Oder Habermas: Er will einen europäischen Nationalismus, weil er sich davon einen Kontrapunkt zu den USA in Sachen Sicherheitspolitik erhofft. Wie stehen dann aber Interesse und Unterordnung zueinander?
Vernünftigerweise kann aus einem Interesse immer nur eine bedingte Zustimmung zu einem Projekt erwachsen (dies soll kein Tip für Habermas sein). Wenn der Wohlstand der Grund der Zustimmung für Deutschland wäre, dann hörte die Zustimmung eben auf, wenn Deutschland den nicht gewährleistet. Unbedingte Parteinahme aus einem bestimmten Interesse heraus ist deswegen widersinnig und streicht das Ausgangsinteresse tendenziell durch. Nationalismus ist ein Salto mortale, bei dem der Unterwerfungswille zum Ersten wird, das Interesse dagegen, das dadurch verwirklicht werden soll, zum Abfallprodukt. Dies ist der Grund, warum sich sozialistische Befreiungsnationalisten so gerne mit faschistoiden Gesinnungsgenossen zusammentun und warum der Bürger bereit ist, sich im Krieg fürs Vaterland zu opfern.
Letztlich ist der Nationalismus sowieso nur ein Bekenntnis zur Herrschaft und nicht die entscheidende Bedingung derselben, denn diese ist die Gewalt. Keine Herrschaft macht den Gehorsam von der Haltung ihrer Untertanen abhängig, was man Gesetzen, Polizei und den für den Fall einer massenhaften Verweigerung vorgesehenen Notstandsgesetzen entnehmen kann.



Und weil Nationalismus ein einziger Beschiss ist, kommt Habermas bei seiner Konstruktion einer europäischen Identität nicht ohne größere logische Fehler aus:

Wie backt man sich einen Nationalismus intellektuell?

"Allein das Bewußtsein eines gemeinsamen politischen Schicksals und die überzeugende Perspektive für eine gemeinsame Zukunft können überstimmte Minderheiten von der Obstruktion [Behinderung] eines Mehrheitswillens abhalten."
Zwei Sachen hält Habermas für elementar für einen Nationalismus, das Bewusstsein eines gemeinsamen Schicksals und eine politische Vision. Mit dem Schicksal hat Habermas die verbreitetste "Begründung" für Nationalismus am Wickel. Warum ist man deutsch? Da heißt es dann, wegen der gemeinsamen Geschichte (die manchmal bis zu den Germanen zurückreicht). Dass die Geschichte immer noch eine Sache ist, zu der man sich geistig stellen kann, fällt dabei unter dem Tisch. Die Geschichte kann ja je nach ihrem Inhalt auch eine sein, die man schlecht findet, mit der man auch nichts zu tun haben will, vielleicht auch, weil man sie gar nicht selber gemacht hat: Zwanzigjährige Menschen haben seit der Vereinigung plötzlich 40 Jahre "DDR-Diktatur" auf dem Rücken, warum eigentlich? Egal, im Nationalismus kommt es halt nicht auf Argumente an, sondern auf ein Bekenntnis zur Nation, und da passt dann das "Schicksal" und der Spruch, "wieso, du bist doch auch hier aufgewachsen" ganz gut.
Habermas scheint nicht so plump zu sein. Er will eine "bewusste" Aneignung der Geschichte. Das hört sich aufklärerisch an. Warum will er aber eine bewusste Aneignung? "Historische Erfahrungen kandidieren nur für eine bewußte Aneignung, ohne die sie eine identitätsbildende Kraft nicht erlangen." Die bewusste Aneignung ist bei ihm einzig eine Funktion für das eigentliche Anliegen, nämlich für eine stabile und dauerhafte Identität. Als Intellektueller traut er dem herkömmlichen "ich bin Deutscher, weil es so ist", nicht über den Weg. Eine bewusste Schicksalskonstruktion - nicht willkürlich - kann freilich auch nicht ohne einige logische Verrenkungen über die Bühne gehen.
Zunächst gibt Habermas zu, dass die von ihm ins Auge gefaßte Identität "etwas Konstruiertes von Anfang an" ist. Damit verwirft er sein Projekt aber nicht, sondern behauptet: "Aber nur ein aus Willkür Konstruiertes trüge den Makel der Beliebigkeit. Der politisch-ethische Wille, der sich in der Hermeneutik (Sinndeutung, Auslegung) von Selbstverständigungsprozessen zur Geltung bringt, ist nicht Willkür."
Einmal soll die Konstruktion einer europäischen Identität keine Willkür sein, weil nicht nur ein politischer Wille am Werk ist, sondern ein ethischer. Ethik steht dabei für das Allgemeine, das Gute und Schöne, also für nichts weiter, als dass man der Absicht dieses Willens vertrauen soll. Kein Argument gegen Willkür, sondern ein billiger Trick, mit dem der Inhalt des Willens durch ein positives Vorurteil über den Willen abgesegnet werden soll. "Selbstverständigung" wiederum unterstellt ein schon vorhandenes Kollektiv, das sich selbst verständigt und dessen Identität. Da schummelt Habermas das Beweisziel, es gebe eine nicht-willkürliche Identität der Europäer, in den Ausgangspunkt herein. Dasselbe gilt für die Hermeneutik. Diese macht nur Sinn, wenn das "innere Band", das aufgespürt werden soll, auch tatsächlich vorhanden ist.
Unter dem Strich kann man also sagen, dass Habermas mit seinen methodischen Vorbehalten kein Stück besser ist als seine Nationalismus backenden Vorgänger, denen er vorhält, dass "viele politischen Traditionen, die im Scheine ihrer Naturwüchsigkeit Autorität heischen, »erfunden« worden sind". Wir würden noch korrigieren: alle politischen Traditionen!
Wie backt man Nationalismus herkömmlich?

Habermas versucht, der europäischen Identität durch seine Idee ihrer "bewussten Aneignung" Kraft zu verleihen. Da man etwas nur dann Kraft verleihen kann, wenn es vorhanden ist, widmet sich Habermas auch dem Beweis, dass es schon eine gemeinsame Mentalität, quasi als Substanz der Identität, gebe.
"Ein europaweit angezettelter Diskurs müßte freilich auf bestehende Dispositionen treffen, die auf einen stimulierenden Selbstverständigungsprozess gewissermaßen warten."
Habermas meint bestimmte Einstellungen (Dispositionen) bei "den Europäern" feststellen zu können, die zusammen eine europäische Mentalität ergeben. Diese resultiert bei Habermas wiederum aus der gemeinsamen Geschichte und seine ausgewählte Darstellung derselben hat keinen anderen Zweck, als einen Determinismus aufzumachen: Weil die Geschichte in Europa so gelaufen ist, sind wir eher so. Dass es ihm nicht um eine bloße objektive Untersuchung des vorherrschenden Geisteszustands in Europa geht, sondern wiederum um eine Konstruktion bzw. Erfindung von ihm, zeigt sich u.a. an zwei Stellen:
Erstens verwandelt er die stattgefundenen Kriege und Gegensätze in Europa in ein Argument für Europa. Die europäische Kultur (seltsames Subjekt) "mußte unter Schmerzen lernen, wie Unterschiede kommuniziert, Gegensätze institutionalisiert und Spannungen stabilisiert werden". Das ist auch ein bekannter Kniff des Nationalismus. Die ganze Scheiße, die die europäischen Staaten seit ihrem Bestehen gemacht haben, soll nicht als Argument gegen ein Europa gelten, sondern als Pluspunkt und das aus zwei falschen Gründen: Zunächst referiert Habermas lauter Sachen, bei denen man sagen müsste, da kann ja keine Gemeinschaft herauskommen und sagt dann ganz formalistisch: Den anderen, getrennt von dem, was er einem antut, anzuerkennen, ist doch auch schon eine Gemeinsamkeit. Mit dem Verfahren kann man jedes beliebige Kollektiv erfinden. Weiter unterstellt Habermas, dass Erfahrung besonders klug macht. Man kennt den Gedanken aus dem Kosovo-Krieg. Gerade wegen Auschwitz mußte Deutschland in Jugoslawien bomben. Die eigene angezettelte Vernichtung soll Deutschland dazu prädestinieren, daraus die richtigen Schlüsse für die Zukunft zu ziehen. Es stimmt aber eben nicht, daß Erfahrung klug macht, es kommt darauf an, was man aus ihr für Schlüsse zieht.
Zweitens: Christentum und Befürwortung von Kapitalismus z.B., scheiden für Habermas als Merkmal der Mentalität aus, weil es keine europäischen Eigenarten sind. "Der ?Westen' als geistige Kontur umfaßt mehr als nur Europa." Habermas hat nichts gegen die westliche Denkungsart, aber als Grundlage für eine bedingungslose Solidarität reicht ihm das nicht. Immerhin soll der Nationalismus ein Europa stärken, das gegen die USA anstinken soll, und da soll man nicht den Falschen für seinen Bruder halten. Nationalismus ist ein Bekenntnis zur Unterordnung unter eine staatliche Herrschaft und davon gibt es mehrere in der Welt. Diese stehen in wirtschaftlicher und politischer Konkurrenz zueinander und deswegen kommt der Nationalismus auch nicht ohne eindeutige Abgrenzung gegenüber allen anderen Staaten aus.

Nationalismus ist das Ja zur Herrschaft, ohne zu fragen, was dabei herumkommt. Für die Herrschaft ist diese Geisteshaltung so verdammt nützlich, weil die effizienteste Herrschaft die Zustimmung der Untertanen einschließt. Mit solchen Untertanen kann man in den Krieg ziehen und mit ihnen kann man auch eine Agenda 2010 umsetzen. Deswegen lassen wir auch die Finger davon und überlegen uns, was Deutschland oder hier bei Habermas, Europa ist und was man davon hat.

2. Dein Partner Weltmacht
Europa oder Kants ewiger Friede wartet auf die EU

Bei Habermas mischt sich ein kantischer Idealismus von einer "Weltinnenpolitik" und knallhartes realpolitisches Machtkalkül. Der kantische Idealismus besteht in dem Wunsch, die Staaten würden sich trotz ihrer Gegensätze in der Konkurrenz einfach mal auf eine Weltinnenpolitik verständigen - ohne Krieg. Der Rechtszustand im Inneren einer Gesellschaft, in der der Einzelne seine Interessen nicht mehr mit seiner eigenen Gewalt durchsetzen darf, soll für die Staaten untereinander weltweit Geltung bekommen. Als Paradebeispiel gilt für Habermas die EU: "Die EU bietet sich schon heute als eine Form des »Regierens jenseits des Nationalstaates« an, das in der postnationalen Konstellation Schule machen könnte." Die Mitgliedsstaaten der EU haben doch auch viele Vereinbarungen hinbekommen, ohne laufend Kriege gegeneinander zu führen, so der Gedanke.
Habermas unterschlägt bei seinen Wunschvorstellungen zwei wesentliche Sachen: Erstens gilt der Rechtszustand im Inneren der Gesellschaft nur, weil es das Gewaltmonopol des Staates schon gibt. Die Unterwerfung aller Untertanen unter dieses Gewaltmonopol war bei jeder Staatsgründung erstmal eine sehr blutige Angelegenheit. Weil die Gewalt im Staat monopolisiert ist, artet die Konkurrenz im Inneren der Gesellschaft nicht in ein Hauen und Stechen aus, aber Gewalt kommt trotzdem laufend vor. Gedacht ist jetzt nicht an Verbrechen, wo eigene Gewalt trotz des Gesetzes angewendet wird und man hofft, nicht erwischt zu werden. Vielmehr "leiht" der Staat jedem Einzelnen seine Gewalt, insofern das konfliktträchtige Interesse rechtmäßig ist. Wenn ein Vermieter sein Haus aufmotzen will, um höhere Mieten zu verlangen und dabei die bisherigen Mieter rausschmeißt; wenn ein Unternehmen seine Arbeiter entlässt, weil sie nicht mehr rentabel sind; wenn ein Kreditinstitut jemanden in die Insolvenz treibt: das alles beruht auf Gewalt. Nur kommt sie nicht immer real zum Einsatz, weil die Unterlegenen von vornherein von der Überlegenheit der rechtmäßigen Gewalt überzeugt sind, also den Rechtsstaat anerkennen. Analog dazu: Eine Weltinnenpolitik käme also erst dann zu Stande, wenn ein Staat alle anderen grundsätzlich unterwirft, ihnen die Souveränität nimmt und dafür wäre ein Krieg notwendig, der sich gewaschen hat.
Zweitens meint Habermas mit dem Beispiel EU genau ein solches Vorbild für Weltinnenpolitik, ohne Krieg zur Herstellung derselben, gefunden zu haben. Die EU ist ja auch tatsächlich einzigartig. Kaum hat Deutschland seinen Krieg verloren, machen die anderen Staaten mit dem ehemaligen Feind lauter Kooperationsverträge, die zu einem gemeinsamen Wirtschaftsraum und einer Währung herangewachsen sind - alles ohne neue Kriege. Aber was war denn die Bedingung für die "funktionalen Imperative", die Habermas heute verschmäht? Warum haben denn DM, Franc, Lire etc. nicht ausgereicht? Weil auf dem Weltmarkt schon eine stärkere Währung vorhanden war, der Dollar. Die USA als die überlegene Macht in allen wirtschaftlichen Fragen waren der Grund des Zusammenschlusses der EU-Staaten. Weil sie sich alleine nicht dagegen behaupten konnten und können, haben sie sich gegen die USA zusammen getan, um im Bündnis als Gegenmacht aufzutreten. Und weil die USA auch die überlegene politische Macht sind, kommen jetzt viele darauf, dass eine Sache bei der EU noch fehlt: eine gemeinsame Sicherheitspolitik. Also von wegen, wir hätten es bei den europäischen Staaten mit lauter Subjekten zu tun, die endlich eingesehen haben, dass man ohne Krieg viel weiter kommt. Weil sie es mit dem überlegenen Gegner alleine nicht aufnehmen können, rotten sie sich zusammen, um aktuell dem entscheidenden Gegner zumindest die Stirn bieten zu können und wenn es geht zukünftig selber dessen Position einzunehmen.

Wer ist Europa?

Die Vorstellung, dass Europa dufte ist, weil es keine Gewalt anwende, dialogmäßig mit seinen Nachbarn umgeht, verhandelt statt zu bomben und sich deshalb so grundsätzlich von den USA unterscheide, hat aktuell Hochkonjunktur. Diese Vorstellung teilt auch Habermas und ist deswegen so versessen auf ein einiges Europa, das die USA in ihrem "hegemonialen Unilateralismus" bremst. Um so unverschämter findet Habermas die Tatsache, dass sich europäische Staaten im Irak-Krieg an die Seite der USA stellten und macht sich dabei zum Parteigänger einer deutschen bzw. französischen Machtpolitik.
Seine Wahrnehmung der Politik ist dementsprechend getrübt: Er behauptet, daß Spanien, England usw. eine einheitliche EU-Position verhindert hätten, weil sie "hinter dem Rücken der anderen EU-Kollegen" der USA ihre Loyalität bekundet haben. Dabei waren es zunächst Deutschland und Frankreich, die ohne Absprache ihre Unterstützung verweigert haben. Auch sein Blick auf die östlichen Antrittskandidaten ist der gleiche wie der von Schröder oder Chirac: "die mittelosteuropäischen Länder streben zwar in die EU, ohne jedoch schon bereit zu sein, ihre eben erst gewonnene Souveränität wieder einschränken zu lassen." Habermas spricht es direkt aus, dass die EU vom Osten Unterordnung verlangt. Aber warum geht er eigentlich davon aus, dass die Unterordnung unter das deutsche und französische Interesse das Interesse von Europa ist? Man könnte das alles auch umdrehen und sagen, hätten sich Deutschland und Frankreich nicht so angestellt, hätte man doch eine einige Sicherheitspolitik gehabt. Habermas geht so selbstverständlich mit den vorhandenen Machtverhältnissen innerhalb der EU um, dass er das deutsche und französische Interesse einfach mit dem der EU gleichsetzt. Nur so kann er darauf kommen, dass der Mangel in der EU die Ablehnung von Mehrheitsentscheidungen ist. Wenn England und Spanien das entscheidende Gewicht in der EU hätten, dann würde Habermas niemals auf die Idee kommen, Mehrheitsentscheidungen zu fordern und deswegen einem europäischen Nationalismus das Wort zu reden. Er würde glatt behaupten, es gäbe keinen europäischen Willen, sondern nur die besonderen Machtinteressen von England und Spanien.

Die weiche Macht Europa - Macht ohne Gewalt?

Habermas kalkuliert mit vorhandenen Machtverhältnissen und kommt dabei auf ein urdeutsches Konzept: Erstmal muss ein Kerneuropa her, das voranschreitet in einer einigen Sicherheitspolitik, aber weiterhin auf die anderen europäischen Länder schielen soll. Er propagiert das Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten. Deutschland, Frankreich, die Benelux-Staaten und wer sonst bereit ist, sich ihnen unterzuordnen, legen schon mal mit einem Kerneuropa innerhalb der EU los. "Davon wird eine Sogwirkung ausgehen, der sich die anderen Mitglieder - zunächst in der Eurozone - nicht auf Dauer werden entziehen können."
Mit der Sog-Wirkung ist das Instrument angesprochen, mit dem die führenden EU-Staaten sowohl innerhalb der EU als auch nach außen im wesentlichen ihre Interessen umgesetzt haben. Einen "Sog" kann man nur erzeugen, wenn die anderen Staaten wirtschaftlich oder/und politisch abhängig sind. Diese Abhängigkeiten gilt es auszunutzen, damit die anderen Länder aus eigenem Interesse heraus mitmachen.
Innerhalb der EU: Erinnert sei daran, dass die Maastricht-Kriterien für die Geldwertstabilität des Euros vor allem von Deutschland gegen die anderen Länder durchgesetzt worden sind. Zuvor hatte Deutschland die vorherige Geldkooperation im EWS gegen die Wand fahren lassen und die Solidarität aufgekündigt. Dann hat Deutschland die anderen Länder vor die Wahl gestellt: Entweder ihr macht mit oder eure Währungen versinken vollständig in der Versenkung, weil wir euch nicht helfen werden. Aktuell, in der Debatte um eine europäische Verfassung, begegnen Deutschland und Frankreich dem Einspruch osteuropäischer Antrittskandidaten mit dem Hinweis auf Finanzhilfen, die man gegebenenfalls noch mal überdenken müsste. Habermas nennt das die "weiche Macht" von "ökonomischen Vorteilen", was den Touch von Hilfe und Unterstützung hat. Uns erinnert das alles eher an Erpressung.
Nach außen: Letztes Jahr haben die EU-Außenminister beschlossen, daß die Nicht-EU Nachbarländer für die frühzeitige Beseitigung von Flüchtlingen in der EU zuständig sein sollen. Sie haben darüber gestritten, ob man die Länder durch wirtschaftliche Sanktionen oder durch das Angebot von Vorteilen dazu bewegen soll. Ist aber letzteres das Gegenteil vom ersteren? Arme Länder durch das Anbieten von Krediten oder Handelserleichterungen rumzukriegen, kalkuliert doch auch schon auf die Armut derselben und deren Ausnutzung. Gegenüber unterlegenen Ländern nimmt sich die Arroganz der EU und der USA übrigens gar nichts.

Die harte Macht Europa

Und alles ohne Gewalt? Die europäischen Staaten haben Kredite in alle Welt vergeben und nutzen die Zahlungsverpflichtungen der anderen Länder als Druckmittel, um in die entsprechenden Länder hineinzuregieren. Das nennt Habermas "weiche Macht". Aber warum lassen sich das so viele ärmere Länder gefallen? Was war eigentlich der ganze politische Background für die wirtschaftliche Zersetzung des Ostens (der Westhandel, die IWF-Kredite)? Dafür standen die USA mit ihrer politischen Gewalt ein und die EU-Länder konnten auf dieser Grundlage überhaupt erst die wirtschaftliche Macht einsetzen. Dass wirtschaftliche Macht auf der politischen Gewalt beruht, zeigt sich für Deutschland und Frankreich mit negativem Vorzeichen am Irakkrieg. Da haben sie mit dem Irak und dem Iran schon Verträge abgeschlossen und dann machen die USA mit ihrem Krieg die ganzen Geschäftsgrundlagen zunichte. Die reale Gewalt ist und bleibt die Grundlage für die weiche Macht, die Habermas der EU als einziges Mittel andichtet. Und dies ist auch der Grund, warum manche Länder und die hiesige Opposition den Bruch mit den USA verantwortungslos finden, weil sie meinen, dass Europa die Gewalt der USA noch nicht ersetzen kann.
Aber bei dem ganzen Gerede über die weiche Macht sollte auch nicht vergessen werden, dass Europa seinen ersten Krieg schon geführt hat - gegen Jugoslawien. Es ist schon komisch, dass sich in der heutigen Debatte über die USA niemand mehr an diesen Krieg erinnern will. Damals haben die EU-Staaten trotz des Vetos von Rußland und China im Sicherheitsrat den Krieg angezettelt. Rußland hatte ja auch wirtschaftliche Beziehungen zu Jugoslawien, die durch die Gewalt der NATO plötzlich nichts mehr wert waren. Aber wenn die USA den Europäern jetzt praktisch zeigen, dass es bei Krieg und Frieden eben nur auf die Macht ankommt, dann sind für Habermas und seines Gleichen die USA Völkerrechtsbrecher und die EU ist ein Hort des Friedens.
Die deutsche und französische Politik ist trotz gleichlautender Propaganda um einiges realistischer als Habermas und setzt den Ausbau der militärischen Kooperation und Macht auf die Agenda. Und mit der Frucht der intellektuellen Leistungen eines Habermas können die beiden Staaten damit rechnen, dass trotz massiven Sozialabbaus die Staatsbürger ihren Regierungschefs dabei die Stange halten werden.

Text 2:
Mentalität und Identität innerhalb des europäischen Nationalismus bei Habermas


Habermas´ europäischer Nationalismus verbindet rationale und mythische Elemente miteinander: Er ist eine selbstbewusste Konstruktion, entwickelt sich aber aus dem Bewusstsein eines gemeinsam erlebten und zukünftig zu erlebenden Schicksals. Jeder ist selbständig an seiner Gestaltung beteiligt und doch durch eine höhere Instanz mit den Anderen verbunden. Habermas verknüpft verfassungsnationalistische und völkische Momente miteinander. Er spricht zwar nicht von Volksgemeinschaft oder Blutsbanden, verleiht aber der angestrebten Künstlichkeit seiner Konstruktion eine nicht begründbare, nicht hinterfragbare Legitimität, indem er Geschichte als Schicksal begreift.
Bei der Konstruktion eines spezifisch europäischen Nationalismus ergeben sich zwei Probleme: Zum einen hat sich die abendländische Tradition erfolgreich in alle Welt verbreitet und ist damit keine europäische Besonderheit mehr: "Weil sich Christentum und Kapitalismus, Naturwissenschaft [...], römisches Recht [...], Demokratie und Menschenrechte, die Säkularisierung von Staat und Gesellschaft über andere Kontinente ausgebreitet haben, bilden diese Errungenschaften kein proprium [Eigenheit] mehr." Statt sich darüber zu freuen, dass seine Lieblingswerte weltweit anerkannt sind und damit zur Konstruktion eines Weltbürgertums überzugehen, stellt dies für ihn ein Problem dar, allerdings eines, das er - wie sich zeigen wird - zu lösen weiß. Zum anderen stellt er fest, dass die europäischen Staaten im Gegensatz zueinander stehen. Unter der Voraussetzung, dass der europäische Nationalismus sich durch einen diskursiven Selbstverständigungsprozess entwickelt, der den Pluralismus der Meinungen einschließt, wird dieses Problem von ihm in eine Verlaufsform gebracht: Er unterstellt, dass Gegensätze Herausforderungen sind, die man in einem harten, aber kreativen Lernprozess bewältigen kann, um gestärkt daraus hervorzugehen. Damit unterschlägt Habermas, dass Staaten in Verhandlung miteinander treten, um ihre Interessen gegeneinander durchzusetzen und der militärisch und ökonomisch Stärkere dabei meist der Bestimmende ist. Wollen Staaten durch ein Bündnis gestärkt nach außen auftreten, müssen sie einen Teil ihrer Souveränität einschränken. Dieser Vorgang wird von Habermas jedoch als friedfertige Kooperationsleistung wahrgenommen, die ein europäisches Spezifikum darstellen soll: Er nimmt sie als erstes Merkmal für eine europäische Identität. Damit hat er auch das erste Problem gelöst. Ein proprium ist gefunden.
Dem geschichtlichen Prozess, innerhalb dessen sich das europäisches Bündnis bildete, geht nach Habermas eine europäische politische Mentalität voraus. Diese Mentalität ist mehr als nur eine Identität durch das Abarbeiten aneinander, sie ist eine gleichgerichtete Gemütsart, die bewusst oder auch unbewusst zum gemeinsamen Handeln führt. Es gab sie angeblich schon bevor Habermas sie als solche erkannt hat; sie ist naturwüchsig aus der Geschichte hervorgegangen. Habermas führt sie ein, um der Künstlichkeit der Identität ein naturwüchsiges Wesen, bestehend aus gemeinsamen Erfahrungen und Idealen der Europäer, unterzuschieben.
Die Identität hat zwar ein natürliches Wesen, muss aber trotzdem konstruiert werden. "Heute wissen wir, dass viele politische Traditionen, die im Scheine ihrer Naturwüchsigkeit Autorität heischen, »erfunden« worden sind. Demgegenüber hätte eine europäische Identität, die im Licht der Öffentlichkeit geboren würde, etwas Konstruiertes von Anfang an. Aber nur ein aus Willkür Konstruiertes trüge den Makel der Beliebigkeit." Damit man merkt, dass hierbei alles mit rechten Dingen zugeht, verhält sich Habermas wie der Zauberer, der den weissen Hasen aus dem Hut holt und vollzieht die Konstruktion öffentlich - mit dem Unterschied, dass Habermas an das glaubt, was er sagt. Was in der Öffentlichkeit geschieht, kann nicht falsch sein, weil jeder Einzelne zur Öffentlichkeit gehört. Deshalb ist dieser Prozess auch nichts Willkürliches, autoritär Diktiertes. Alle sind an der Konstruktion der Identität beteiligt, was sie zum Ausdruck des politischen Willens Aller macht und demokratisch legitimiert. Weil die Allgemeinheit aus sich selbst ihre Identität gebiert - sie hat ja schon eine europäische Mentalität, aus der sie schöpfen kann -, ist Habermas´ Werk eigentlich nur ein Hervorrufen der Wahrheit. Das heißt aber nichts anderes, als dass aus der Geschichte der europäischen Mentalität bewusst gewählt wird, was tauglich ist und was nicht und wie Geschichte verstanden werden soll. Wo die ganze Zeit von Offenheit, Willen, Bewusstsein - Attributen, die Wahrhaftigkeit meinen - die Rede ist, ist die Geschichte doch etwas, das der Interpretation im Sinne von Brauchbarkeit anheim fällt. Ein brauchbarer Wert für Habermas´ Nationalismuskonstruktion ist die französische Revolution. Dass Auschwitz nicht als positives Merkmal der Identität taugt, ist für Habermas aber auch kein Problem. Schließlich kann der Europäer sich auf die Schulter klopfen, daraus gelernt zu haben. "Die selbstkritischen Auseinandersetzungen über diese Vergangenheit haben die moralischen Grundlagen der Politik in Erinnerung gerufen." Die Wahrheit entspringt aber der Betrachtung der Sache selbst, wie sie ist und nicht ihrer Brauchbarkeit. Die Wahrheit über die europäische Geschichte ist eben keine schöne, weshalb Habermas sie sich erst in seinem Sinne aneignen muss.
Seine Betrachtung der europäischen Geschichte und Gegenwart erfüllt einen bestimmten Zweck: Sie stellt nicht nur einen positiven Bezugspunkt für den Zusammenschluss der europäischen Staaten und den adäquaten Bewusstseinszustand ihrer Bürger dar, sondern gibt in der unmittelbaren Abgrenzung zu den USA die Richtung des nationalistischen Potentials vor.
Der Weltmacht Nr. 1 soll perspektivisch die Position streitig gemacht werden und um die Notwendigkeit dessen zu beweisen, wird ihr erstmal eine üble Fratze verpasst. Der Französischen Revolution wird der Liberalismus, dem Sozialstaat der Raubtierkapitalismus, der Solidarität in Europa der Individualismus auf amerikanischer Seite gegenübergestellt.
Die ideelle Kraft der Französischen Revolution macht nach Habermas´ Meinung Europa zu einem Ort, an dem die Menschen dem Staat vertrauen. Sie leben in "Freiheit, Gleicheit, Brüderlichkeit" - also nicht bloß in Freiheit und Gleichheit, was Amerika zugeschrieben wird. Mit der Freiheit des Marktes sind nämlich die "scharfen Klassengegensätze" verbunden, die Habermas' Europäer nicht zusagen. Im Unterschied zu Amerika steht man hier nämlich auf die solidarische Gemeinschaft, in der nicht jeder an sich denkt oder in Habermas' Worten vielmehr auf "die zivilisierende Gestaltungsmacht des Staates". Gestalten klingt schön neutral und meint auch nur das Beste, allerdings nur für das Allgemeinwohl. Das Allgemeinwohl aber ist eine Abstraktion von den Interessen des Einzelnen für das Ganze. Der Einzelne ist nicht Zweck des Allgemeinwohls, sondern nur Mittel. Als Mittel muss er den Gürtel meistens enger schnallen. Habermas Europäer kann also darauf vertrauen, dass der Staat vor dem Versagen des Marktes schützt; fragt sich nur, wer vor dem Staat schützt. Es wird suggeriert, Staat und Markt ständen, nachdem der Staat die Klassengegensätze zivilisierend beigelegt habe, in einer harmonischen Konstellation, während in Amerika immer noch der Raubtierkapitalismus herrsche. Abgesehen davon, dass es in Amerika sehr wohl ein Sozialsystem gibt, ist es kaum besser, sich für das harmonische Allgemeine aufzuopfern, als am Markt zu verlieren.
Zwar soll man sich opfern, aber man kann auch wählen. Weil "wir" in Europa ein differenziertes Parteisystem haben, können wir an den verschiedenen Positionen, die uns dadurch zur Verfügung stehen, unser Bewusstsein bilden und abwägen, ob wir das mitmachen oder nicht. Es wird unterstellt, es gebe wesentliche Unterschiede im Angebot der Parteien zum Umgang mit dem Kapitalismus, während in den USA nur noch die Wahl zwischen Demokraten und Republikanern zu fällen sei. Das vernachlässigt, dass Parteien sich grundsätzlich zur vorhandenen Ordnung bekennen, die eine kapitalistische ist, und deshalb in ihren Reformen niemals umhin können, als deren Bedingung Wirtschaftswachstum anzustreben. Dementsprechend divergieren ihre politischen Bewertungen auch nur unwesentlich. Habermas aber will uns glaubhaft machen, Europa sei vielfältiger, weil es woanders (USA) überhaupt keine Auseinandersetzung über die "sozialpathologischen Folgen der kapitalistischen Modernisierung" gebe. Es wird unterstellt, hier könne sich jeder für oder gegen die Modernisierung entscheiden. Staaten, die kapitalistisch produzieren können es sich aber nur in einem sehr begrenzten Rahmen leisten, Rationalisierungsmaßnahmen zu unterlassen. Und Europa als Staatenbündnis auf dem Weg zur Weltmachtstellung kann das schon gar nicht.
Es geht Habermas nicht darum, was Einzelne wählen wollen, sondern um die Solidarität mit den anderen. Und wieder zählt der Individualist nichts, dafür die Gemeinschaft alles. Nicht nur abstrakt für das Allgemeinwohl, sondern ganz konkret für den Mitmenschen muss man Verluste hinnehmen. Das ist soziale Gerechtigkeit, die unterschlägt, dass es eine Bestimmung der kapitalistischen Konkurrenz ist, des Einen Gewinn des Anderen Verlust sein zu lassen. Diese Differenz wird durch keine Solidarität ausgeglichen, noch kann sie, soll das System erhalten werden. Habermas aber hält die Solidarität als Verdienst der Arbeiterklasse hoch: "In Europa sind die lange nachwirkenden Klassenunterschiede von den Betroffenen als ein Schicksal erfahren worden, das nur durch kollektives Handeln abgewendet werden konnte." Die Solidarität, die Habermas meint, ist eine, die als nationalistische an die faschistische Gemeinschaft problemlos Anschluss gefunden hat. Deren Forderung war keine andere als die nach Arbeit, nicht nach einem besseren Leben.
Habermas Europa ist nicht nur solidarisch, sondern auch moralisch, denn "durch die Erfahrungen der totalitären Regime des zwanzigsten Jahrhunderts und durch den Holocaust" ist Europa humanisiert. Es hat sich eine "erhöhte Sensibilität für Verletzungen der persönlichen und der körperlichen Integrität" eingestellt. Im Gegensatz zu den USA ist nämlich in Europa die Todesstrafe abgeschafft - übrigens auch nur, weil sich die repräsentative Demokratie unabhängig von dem, was Habermas die Mentalität des Volkes nennt, entschieden hat. Indem er diese Sensibilität feiert, gewinnt er Auschwitz etwas Positives ab.
Um ihre Interessen besser in aller Welt und besonders gegen die USA durchzusetzen, haben die europäischen Staaten für das Bündnis ihre Souveränität eingeschränkt. Für Habermas haben sie das aus dem Willen zur Gewaltlosigkeit getan. Dass Europa sein Rüstungsbudget gerade wieder aufgestockt hat, kratzt nicht an der Gewaltlosigkeit, weil es nach so einem wie Habermas Kriege aus humanitären Gründen führt. Zudem kann Europa gar nicht mehr kriegerisch unterwegs sein, weil es sich nämlich domestiziert hat. Das ist so etwas wie zivilisiert und kultiviert und wieder einmal das Gegenteil von den wilden, primitiven USA. Europa hat eine Menge aus der Geschichte gelernt. Zu guter Letzt, dass Imperialismus und Kolonialismus schlecht sind. Gewaltsam Land und Leute aneignen und alleine regieren zu wollen, funktioniert nicht. Deshalb erkennt man besser andere Souveräne an, schließt sich mit ihnen zusammen und geht gegen alle anderen, besonders die USA an. Die sind nämlich nicht so weit im Denken und machen noch die Phase des Kolonialismus durch, wo doch nach Habermas jeder weiß, dass das Kinderkacke ist.
Wenn Habermas' Europäer sich das alles endlich bewusst gemacht hat, dann kann er getrost auf die Welt losgelassen werden.

Diese Texte wurden 2003 als Flugblatt von jimmy boyle Berlin veröffentlicht.