18.03.2022 PDF

Hört auf, "die Ukraine" und ihre Bevölkerung in einen Topf zu werfen

Der folgende Text ist eine Übersetzung von Stop conflating Ukraine and its inhabitants.

Ukrainer*innen und andere Leute, die auf dem Gebiet der Ukraine wohnen, werden als Mittel für die strategischen Ziele anderer benutzt und geopfert: von Russland, von der EU/NATO und von der Ukraine.

"Putin". Der russische Staat bombardiert ukrainische Städte und tötet dabei viele Leute. Weitere Tote folgen als "Kollateralschäden" verschiedener militärischer Aktionen. Zusätzlich zerstört der russische Staat die lokale Infrastruktur und schneidet die Menschen, die das Glück haben, nicht direkt vom russischen Militär angegriffen zu werden, von lebenswichtiger Versorgung mit Lebensmitteln, Medikamenten u.a. ab. Der russische Staat zielt nicht explizit darauf ab, Ukrainer*innen per se zu töten. Sondern er tötet sie, wenn sie den ukrainischen Staat (und damit die sich Russland nähernde Einflusssphäre der EU/NATO) verteidigen, bzw. beim Angriff auf das "russlandfeindliche Projekt" im Weg sind: So will Russland der NATO seine "roten Linien" deutlich machen, wenn es um die Friedensordnung in Europa und die vom russischen Staat geforderten Sicherheitsgarantien geht.

"Der Westen". Die EU hat ihre Grenzen für ukrainische Bürger*innen geöffnet, die vor dem Krieg fliehen. In begleitenden Erklärungen stellt sie klar, wer der eigentliche Adressat dieser Geste ist: Russland. Die EU feiert ihre (etwas) offenen Grenzen als Zeichen ihrer Stärke und Einheit.1 Sie trennt dabei die Geflohenen an ihren Grenzen sorgfältig in unterschiedliche Gruppen: ukrainische Staatsbürger und Personen mit ständigem Wohnsitz (mindestens ein Jahr lang wilkommen), anderen, die aus der Ukraine kommen (vorübergehend geschützt) und alle anderen (abgewiesen). So macht die EU auch klar, dass sie sich besonders dann für eine "humanitäre Katastrophe" interessiert und zuständig fühlt, wenn sie sich mit einem "würdigen Feind" konfrontiert sieht, in dessen Handeln sie sich einmischen will.2 Mit der Aufnahme von Geflohenen in so großer Anzahl erklärt sich die EU für die Ukraine verantwortlich. Die zeitliche Befristung der Aufnahme - die die Menschen, die geflohen sind, übrigens in großer Unsicherheit ob der Zukunft belässt - unterstreicht zudem, dass die EU eine Lösung für die Situation in der Ukraine anstrebt: Die aufgenommenen Personen sollen in die Ukraine zurückkehren, sobald dort ein Frieden nach den Vorstellungen der EU hergestellt ist. Die EU benutzt Geflohene dazu, ihren Anspruch auf einen Platz am Verhandlungstisch zu untermauern. Ukrainische und andere Geflüchtete werden von der EU entsprechend ihres strategischen Kalküls in Bezug auf die Ukraine (und andere Staaten) unterschiedlich behandelt und hin und her geschoben. Währenddessen ermutigen, loben und unterstützen dieselben Staaten samt ihres großen NATO-Verbündeten die Tapferkeit der Ukraine, im Krieg für die freie Welt gegen Russland alles zu geben - einschließlich ihres Lebens... während die hiesigen Think Tanks bedächtig abwägen, wie hoch die Kosten eines ukrainisches Lebens sind, und zwar für die NATO.3

Ukraine. Der ukrainische Staatschef, Präsident Zelenskyy, erntet internationalen Beifall für seine ablehnende Haltung gegenüber Fluchtangeboten anderer Länder an seine Person und für seine überschwänglichen Forderungen nach Munition statt Evakuierung. Dabei sind er und seine Regierung offensichtlich nicht bereit, der ukrainischen Bevölkerung diesselbe Wahl - fliehen oder kämpfen - zu lassen. Das Kriegsrecht wurde verhängt, und eine der ersten Anordnungen lautet, dass Männer zwischen 18 und 60 Jahren die Ukraine nicht verlassen dürfen. Diese Millionen Männer im kampffähigen Alter müssen bleiben, damit sie für die Verteidigung des Landes zur Verfügung stehen.4 Sie müssen ihr Leben für den ukrainischen Staat riskieren, unabhängig davon, was sie von diesem Staat und seinem Krieg halten und ob sie dafür zu töten oder getötet zu werden bereit sind. Während der ukrainische Widerstand als Triumph des Kampfgeistes eines freiheitsliebenden Volkes gefeiert wird, bleibt das Offensichtliche fast unkommentiert: der ukrainische Staat setzt seine Bevölkerung unter Gewaltanwendung als Mittel ein, um seine Existenz gegen seinen Gegner zu verteidigen.

Doch die Ukraine und ihr Anführer müssen sich nicht ausschließlich auf rohe Gewalt verlassen, um ihre Bevölkerung (aka ihr Menschenmaterial) dafür zu gewinnen, in den Kampf zu ziehen. Es gibt so viele Freiwillige, dass die Rekrutierungsbüros sie sogar abweisen. Darüber hinaus sind, ermutigt vom Aufruf zur Waffe durch den charismatischen ukrainischen Präsidenten (und westliche Politiker*innen), bereits 80.000 Menschen (hauptsächlich Männer) aus dem Westen ins Land gekommen (Stand: 5. März 2022).

Viele derjenigen, die kommen oder bleiben, um die Invasoren zu bekämpfen, haben eine brutale Verwechslung im Kopf: sie setzen einen Staat gleich mit seinem Volk.5 Für Patriot*innen auf der ganzen Welt ist aufgrund dieses Irrtums überhaupt kein Argument nötig, um zu den Waffen zu greifen, wenn ihr Land angegriffen wird: Ein Angriff auf ihren Staat ist ein Angriff auf sie selbst; seine Sicherheit ist das, was sie sicher macht.

Dabei ist das glatte Gegenteil der Fall: Die Sicherheit des ukrainischen Staates wird auf Kosten des Lebens von Ukrainer*innen sichergestellt (oder soll es werden). Ukrainer*innen werden für die Souveränität und territoriale Integrität des ukrainischen Staates unter den Slogans "Ruhm für die Ukraine" und "Ruhm für die Helden" geopfert.

In Friedenszeiten verweist die Liebe der modernen Bürger*innen zu ihrem Staat auf eine Gesellschaftsordnung, in der der Staat die Grundlage für die Verfolgung individueller Interessen schafft (wobei bekanntlich für die meisten Menschen Armut dabei raus kommt). Die Bereitschaft, sich in Kriegszeiten für den Staat aufzuopfern, lässt jedoch selbst dieses berechnende Motiv seitens der Bürger*innen hinter sich.

Die Ukraine hat ihren Patriot*innen keine rosige Zukunft zu bieten. In seinen viel beachteten Reden zieht der ukrainische Präsident die ukrainische Verteidigungsstrategie knallhart durch: alles und jede*r in der Ukraine wird im Zweifelsfall für die Ukraine geopfert werden.6 Aufgrund der Annahme, dass ein Krieg gegen Russland nicht gewonnen werden kann, besteht die ukrainische Militärstrategie darin, die gesamte Gesellschaft in mehreren "Verteidigungswellen" zu mobilisieren, bis die "internationale Gemeinschaft" den Konflikt "zu günstigen Bedingungen für die Ukraine" beendet (daher das Beharren auf Flugverbotszonen, um die NATO in eine direkte Konfrontation mit Russland zu verwickeln). Die Botschaft des Präsidenten lautet im Wesentlichen: "Sterbt für das Vaterland, bis die NATO eingreift". Die wiederum erklärt immer wieder, dass sie nicht direkt in den Krieg eingreifen wird, sondern bereitet sich darauf vor, einen langwierigen Guerillakrieg zu unterstützen.

Es ist daher mehr als grotesk, wenn westliche und ukrainische Anarchist*innen und andere Linke die Verwechslung von Staat und Untertanen propagieren bzw. beides in eins setzen, ihre Genoss*innen ermutigen, sich zu opfern - praktisch für den ukrainischen Staat, in ihrer Vorstellung für die Freiheit - und Geld für den Krieg sammeln.

Und als moralische Wesen, die sie sind, sammeln sie Geld sowohl um Kriegsflüchtlingen zu helfen, als auch um den Krieg zu führen. Sie können keinen Unterschied feststellen zwischen der Kriegspartei - dem ukrainischen Staat - und den Opfern dieses Krieges - der Bevölkerung.

1 “A major reason for the swift action on Thursday was a desire to have tangible results that showed unity with Ukraine, Czech Interior Minister Vít Rakušan told POLITICO during a break in the discussion. ‘It would be better for all of us to have some particular result of our discussion today,’ he said. ‘It’s really necessary to show that the EU in these days is really united.’” (Politico: EU hails ‘historic’ deal to protect Ukrainian refugees); “Local volunteers and authorities helping Ukrainians arriving in Romania were ‘showing solidarity in practice, showing that we are based on other values than (Russian President Vladimir) Putin and we are practising these values,’ [EU Home Affairs Commissioner Ylva] Johansson said.” (EU plans to grant Ukrainians right to stay for up to 3 years)

2 Etwa zwei Jahrzehnte lang war die EU daran interessiert, die Ukraine als Teil ihres ehrgeizigen Projekts, mit den USA (und jetzt auch mit China) als Supermacht zu konkurrieren, in sich zu integrieren, und versprach den ukrainischen Massen eine Existenz als Lohnarbeiter auf dem Niveau anderer östlicher EU-Staaten. Als dieser Ansatz 2014 von Russland gewaltsam gestoppt wurde, übernahmen die USA die Initiative und die Ukraine genießt seitdem den Status eines Frontstaates, der nützlich genug ist, um den russischen Rivalen zu zermürben, aber nicht wichtig genug, um ihn vollständig zu stützen. Militärhilfe und IWF-Kredite hielten den Staat und seine Gesellschaft am Abgrund. Das Elend, das die EU mit ihren Abenteuern in der Osterweiterung verursacht hat, hat sie nicht zu "Solidaritätsbekundungen" veranlasst.

3“The costs of an insurgency will be tremendous—NATO members are well aware of the bloody toll a conflict takes, after decades of involvement in Afghanistan and Iraq. The human suffering will be extended, as the median length of an insurgency is an estimated 10 years. Refugee flows will move into Europe over time; refugees will have less and less of their own resources to draw upon when they arrive as the war drags on. […] Despite the costs, NATO members should support any Ukrainian attempt to wrest control of the country back from Moscow’s grasp. The Ukrainian government and army have sent every signal that they intend to fight, and fight hard, to keep their country. Whether or not NATO supports this fight, Washington is likely to suffer a backlash, as Moscow will see the United States’ hand at play. In this case, it is better to enjoy the benefits of support if one must already suffer the backlash.” (CSIS Scenario Analysis on a Ukrainian Insurgency)

4 Diejenigen, die gezwungen werden zu bleiben, werden (noch) nicht gezwungen, zu den Waffen zu greifen. Dies liegt (zumindest) teilweise an der fehlenden Ausrüstung, ihrer mangelnden Kampferfahrung und logistischen Problemen. Es gibt natürlich keine Garantie dafür, dass dies so bleibt. So wird der ukrainische Innenminister mit den Worten zitiert: "Heute ist der Moment gekommen, in dem jeder Ukrainer, der seine Heimat schützen kann, zu den Waffen greifen muss. Nicht nur, um unseren Soldaten zu helfen, sondern um die Ukraine ein für alle Mal vom Feind zu säubern."

5 Internationale Medien, wie die im Haupttext zitierten, schreiben den Ukrainern Patriotismus als Leitmotiv zu und den nicht-ukrainischen Freiwilligen eine Mischung aus Begeisterung für Freiheit, Demokratie, bürgerliche Freiheiten, Antifaschismus oder "den Westen". Diese Unterscheidung wird auch vom ukrainischen Staat gemacht: "Mehr als 140 Tausend Ukrainer, meist Männer, kehrten aus Europa zurück. Zehntausende fielen in die Hände der Territorialen Verteidigungskräfte. Natürlich gibt es auch solche, die weglaufen. Aber die ganze Welt sieht, wie das ukrainische Volk für sein Land kämpft. Bereits über 20.000 Aufrufe von Ausländern, die bereit sind, in die Ukraine zu kommen und die Welt vor russischen Nazis an der ukrainischen Front zu schützen. Damit sich das Böse des Kremls nicht ausbreitet." (ukrainischer Verteidigungsminister Oleksii Reznikov) Während die Begeisterung einiger dieser Freiwilligen für die ihnen zugeschriebenen Werte fraglich ist, konzentrieren wir uns hier auf die ukrainischen Patrioten. Unabhängig von ihren persönlichen Motiven - vom Sieg über den Faschismus bis hin zur Verteidigung der "weißen Rasse" - melden sich praktisch alle freiwillig, um Mittel zur Selbstverteidigung des ukrainischen Staates zu sein.

6 Über die Strategie der militärischen Sicherheit der Ukraine. Einen Auszug und eine maschinelle englische Übersetzung gibt es hier. Eine deutsche Übersetzung gibt es hier.